Dieser „Don Giovanni“ ist ungewohnt, fast fremdartig, auf neue Art und Weise faszinierend. Die Pandemie machte die Wiederaufnahme der auf Nähe setzenden Inszenierung von Benedikt von Peter unmöglich. Sehr kurzfristig wurde durch den Regisseur Tobias Mertke eine halbszenische Version eingerichtet. Oper neu denken, Mozart neu denken, es gelang.
Auf der Bühne ist eine Landschaft aus flachen Podesten zu sehen, auf jedem Podest steht jeweils ein Stuhl. Mehr Requisiten gibt es nicht. Das Orchester spielt im Bühnenhintergrund hinter einem Gazevorhang, leicht erhellt vom Licht der Pulte. Wie in einem Nebel wirkt das, geheimnisvoll und fast etwas unheimlich. Ist das die Gegenwelt, die Unterwelt? Solche Gedanken kamen mir in den Kopf. Das Cembalo für die Rezitative steht rechts im angehobenen Orchestergraben.
Die Inszenierung nimmt dann die augenblickliche Situation auf. Alle Figuren bleiben hier für sich. Statt Nähe wie in der Inszenierung von Benedikt von Peter gibt es hier nur unüberwindliche Distanz. Um ohne Pause spielen zu können, wurde auf die meisten rezitativischen Passagen verzichtet. „Don Giovanni“ ist nun nur noch etwas über anderthalb Stunden lang. Das ist eine Dekonstruktion dieser Oper, eine Reduktion, ein mutiges Experiment. Oper wird wirklich neu gedacht.
Zur Ouvertüre kommen im Dunkeln die Figuren auf die Bühne, halb gefesselt und maskiert mit rotweißem Absperrband. Nacheinander reißen sie sich diese Fesseln herunter und werfen ihre dunklen Umhänge ab. Don Giovanni gibt dazu das Signal. Er weckt die Akteure aus so etwas wie einem Traum. Befreit er das, was sie sonst vor sich und anderen Personen verbergen?
Dieser Don Giovanni hat offenbar magische Kräfte. Er ist ein dunkler, gewissenloser Orpheus, der mit seinem Gesang die Frauen verzaubert und die Männer in einen wehrlosen Zustand versetzt. Dieser Zauber lässt nach, wenn er nicht mehr singt. Dann sind die Personen plötzlich wieder bei sich. Die Personen sind dann sehr häufig alle auf der Bühne, wie aus einem Zauber aufgewacht, verwirrt, wehrlos. Die Magie Don Giovannis erreicht ihren Höhepunkt in der von der Mandoline begleiteten Canzonetta aus dem zweiten Akt, die alle auf der Bühne in ihren Bann zieht. Auch das Publikum, mich hat es ebenfalls verzaubert. Nur der Komtur wehrt sich in dieser Oper wirklich und wird dafür bestraft. Don Giovanni tötet ihn über die ganze Bühnenentfernung hinweg, einfach mit einer Handbewegung. Zum Schluß der Oper kommt dann der Komtur aus der Unterwelt zurück und rächt sich. Er tötet Don Giovanni ebenfalls mit einer Handbewegung über die ganze Bühne hinweg. Die böse Tat des Beginns wird gespiegelt. Nur die Kräfte der Unterwelt können Don Giovanni besiegen.
Funktioniert die Kürzung des Stücks? Ich habe die Rezitative nicht sehr vermisst. Die Logik der Oper erschließt sich auch aus der Abfolge der Gesangspassagen. So gekürzt kommt das Unwirkliche und fast Surreale der Handlung sehr deutlich zum Ausdruck. Von „Don Giovanni“ bleibt die Tragödie als Skelett stehen. Nur der Auftritt des Komturs zum Schluß kam mir so gekürzt zu unvermittelt, hier hätte ich etwas mehr Vorbereitung klarer gefunden.
Funktioniert es mit der Aufstellung des Orchesters im Bühnenhintergrund? Für mich wurde auf diese Art und Weise die Musik zu einem wirklichen Akteur der Handlung. Don Giovannis Magie war jederzeit präsent. James Hendry dirigierte das Niedersächsische Staatsorchester feinfühlig, die Musik umhüllte alles federleicht und balsamisch. Die Musik der Höllenfahrt wurde durch die Präsenz auf der Bühne wirklich unheimlich und bedrohlich. Bei dieser Aufstellung des Dirigenten ist die Kommunikation mit den Sängerinnen und Sängern schwierig, aber das funktionierte vorbildlich.
Zu Don Giovannis Höllenfahrt im Finale sang der Chor aus den oberen Foyers, die Türen zum Zuschauerraum waren dazu geöffnet. Unten im Parkett klang das für mich sehr fern und sehr leise. Hier müsste es eigentlich bessere Lösungen geben, vielleicht aus der Seitenbühne heraus?
Gesungen wurde durchweg großartig. Hailey Clark (Donna Anna), Anaïk Morel (Donna Elvira) und Nikki Treurniet (Zerlina) schafften es, auf berührende Art und Weise diesen drei so verschiedenen Frauen Kontur und Stimme zu geben. Die Rollenportraits der männlichen Opfer Don Giovannis durch Long Long (Don Ottavio), Daniel Eggert (Komtur) und Yannick Spanier (Masetto) standen dem in nichts nach. Richard Walshe als jugendlich wirkender Leporello gab seiner Rolle neben Zynismus auch eine große Portion Sex-Appeal mit. Der Don Giovanni von Germán Olvera zeigte in jedem Augenblick seine Verführungskunst. Gesang und Darstellung vom Feinsten, ein wirklich verzaubernder Mozart-Abend.
Wurde man mit dieser reduzierten Inszenierung der Oper gerecht? Für mich beantworte ich das mit einem klaren Ja. Die Anforderungen der Pandemie erzwangen einen neuen und kreativen Umgang mit einem altbekannten Stück. Neue Wege mussten radikal gegangen werden. Das mag vielleicht erschreckend und ungewohnt sein, aber es ist auch aufregend. Sich darauf einlassen funktioniert. Es ist zugänglicher als manche Inszenierung des Regietheaters, die auf obskure Art und Weise das Neue sucht. Hier steht die Oper wirklich im Mittelpunkt. Diese Version ist keine Verlegenheitsinszenierung, sondern eine vollwertige Interpretation. Für mich darf sie gern im Repertoire bleiben!
Achim Riehn