„Otello“ war in dieser Pandemiezeit zu personalaufwändig, als „Ersatz“ setzte die Staatsoper auf die Kammeroper „The Turn of the Screw“ von Benjamin Britten. Aber Ersatz ist das falsche Wort, es ist ein ganz eigenständiges Werk, faszinierend in seiner reduzierten Art.
Die Oper in einem Prolog und zwei Akten basiert auf der gleichnamigen Novelle von Henry James und wurde 1954 im Teatro La Fenice in Venedig erstmals aufgeführt. In Hannover wurde sie vor über vierzig Jahren zuletzt aufgeführt.
Der Prolog erzählt aus einer Außenperspektive die Vorgeschichte. Eine junge, unerfahrene Gouvernante soll sich in einem abgelegenen Landhaus um die Erziehung zweier Waisen kümmern. Der abwesende Vormund will mit nichts belästigt werden, sie trägt die alleinige Verantwortung.
Die beiden Kinder, Flora und Miles, sind lieb, die Hausdame Mrs. Grose streng, aber redlich, alles scheint zu funktionieren. Aber bald bedrängt die Gouvernante der Verdacht, dass die Kinder von zwei Geistern besessen sind. Peter Quint und Mrs. Jessel waren früher Angestellte auf dem Anwesen. Jetzt sind sie tot, aber offenbar noch anwesend. Was ist passiert, was ist real? Existieren diese Geister wirklich? Die Gouvernante versinkt immer tiefer in einem Labyrinth aus Besessenheit, Überforderung und Angst. Das Haus verwandelt sich in eine bizarre Welt des Schreckens. Zum Schluss ist Mrs. Grose mit Flora geflohen, Miles ist tot.
Was real war und was Einbildung, es bleibt ungeklärt. Sowohl die Textvorlage als auch die Oper lassen offen, ob wir uns in einer Geistergeschichte, einem Psychokrimi oder in einer Krankengeschichte befinden.
Die Oper war ursprünglich als Opernfilm geplant, das erklärt ihre Aufteilung in klar getrennte Szenen und musikalische Zwischenspiele. Insbesondere die Zwischenspiele sind jeweils Variationen über ein zwölftöniges Thema, das sich durch alle Tonarten hindurchbohrt und die Drehung der Schraube verkörpert. Eine Schraube soll Halt geben, aber wenn sie überdreht wird, dann zerstört sie alles um sich herum. Dieses Thema erscheint zum ersten Mal in dämonischer Wucht zum Ende des Prologs, zur Textzeile „I will, she said“ des Erzählers.
Die minimalistische und trotzdem klangmächtige Komposition bildet jeweils diesen Wechsel zwischen Realität und Einbildung, Licht und Schatten wirkmächtig ab. Die Besetzung ist reduziert und auf das Wesentliche beschränkt. Sieben Sängerinnen und Sänger und ein kleines Orchester reichen aus, um eine Musikwelt mit faszinierenden Klangreichtum zu schaffen, dramatisch und abwechslungsreich. Stimmlich ist die Oper dabei höchst anspruchsvoll.
Für die Welt dieses Landhauses mit seiner morbiden Vorgeschichte, seinen Geistern aus der Vergangenheit, belebt von zerrissenen Menschen, findet Regisseur Immo Karaman eine sehr stimmige Umsetzung. Es gibt keine Farbe, es ist eine Welt aus Schwarz und Weiß. Es ist eine klaustrophobische Welt, eine Allegorie auf die heutige Zeit.
Im Prolog sehen wir allein auf der Bühne eine rauchende Männerfigur im schwarzen Anzug mit Hut, im Dunkel, mit Lichtakzenten. Eine Szene wie aus einem Kriminalfilm der schwarzen Serie. Nonchalanter ist dieser Prolog kaum zu inszenieren.
Im weiteren Verlauf der Oper wird das Haus durch einige Lichtlinien angedeutet, die den Personen mal mehr, mal weniger Platz bieten. Auch für das Innenleben des Hauses reichen jeweils einige Details. Bühnenbild (Thilo Ullrich), die Kostüme (Fabian Posca), Licht (Susanne Reinhardt) und dezent eingesetzte Videoprojektionen (Philipp Contag-Lada) schaffen so eine scherenschnittartige, expressionistische Welt. Ich wurde an deutsche Stummfilme der Zwanziger erinnert, an „Dr. Caligari“, an „Nosferatu“. Auch die bedrohliche Welt aus Licht und Schatten der frühen Filme von Alfred Hitchcock kam mir in den Sinn. Die Bühne spiegelt so sowohl die Verfassung der Personen wieder als auch die expressionistische Schärfe der Musik.
Gesungen und gespielt wurde ganz wunderbar. Für die sieben Personen auf der Bühne hatte die Staatsoper Hannover eine ideale Besetzung gefunden.
Der Erzähler des Prologs ist nur eine kleine Rolle, nur einige Minuten steht er auf der Bühne. Marco Lee sang diese Rolle sehr rein und schön, mit fast androgyner Stimme. Da freue ich mich, ihn in weiteren Rollen zu hören.
Das Zentrum der Oper ist die Gouvernante. Sarah Brady vermochte es in jeder Sekunde, uns die innere Zerrissenheit dieser Figur vor Augen zu führen, ein herausragendes Porträt. Ihr hell leuchtender Sopran hatte sowohl Wärme und Zärtlichkeit als auch die für die dunkleren Seite notwendige Aggressivität und Durchsetzungskraft.
Der kleine Miles in seinem Anzug und mit seinem vampirischen Aussehen ist ihr Gegenpart. Jakob Geppert, Solist des Knabenchors der Chorakademie Dortmund, schaffte es, sowohl die Unschuld als auch die fast bösartige Besessenheit dieser Figur beängstigend glaubwürdig zu verkörpern. Zu seiner offensichtlichen Spielfreude kam die großartige stimmliche Gestaltung dazu. Rein und unschuldig klang diese Stimme, dann wieder durchtrieben, großes Kino.
Weronika Rabek verkörpert seine pubertierende, heimlich rauchende, etwas zickige Schwester. Britten gibt ihr nicht so viel Raum und Eigenpersönlichkeit, wie er sie Miles zugedacht hat. Weronika Rabek nutzte die Möglichkeiten ihrer Rolle voll aus. Ihr gelang es, Flora als eigenständige Persönlichkeit darzustellen. Die Stimme hat sowohl die Jugendlichkeit als auch schon die Fraulichkeit, die dieses sich entwickelnde Mädchen haben muss.
Die Haushälterin Mrs. Gross ist eine steife Person, redlich, eher unzugänglich, aber auch zu Gefühlsausbrüchen fähig. Monika Walerowicz war die perfekte Besetzung für diese Rolle. Ihr Mezzo hat genügend Tiefe, ihre Höhe walkürenfähige Kraft, die Stimme aber auch mütterliche Wärme. All dies ist auch nötig, um die ganzen Facetten dieser Person adäquat abzubilden. Man konnte Monika Walerowicz fast den Spaß ansehen, so eine verknöcherte Person mit so vielen Klangfarben zu versehen.
Barno Ismatullaeva verkörperte Miss Jessel als beängstigendes Wesen, die Augen hinter einem Schleier verborgen. Ihr dunkel getönter Sopran ist zu den dämonischen Farben fähig, die diese Rolle braucht. Es gelang ihr, jedes Wort zum Glühen zu bringen. Die in diesem Geist lodernde Leidenschaft war fast mit den Händen zu greifen. Der stimmliche Kontrast zum hellen Sopran von Sarah Brady gefiel mir ganz besonders.
Sunnyboy Dladla als Quint war immer nur als Schemen zu sehen, mit leuchtenden Augen, rauchend, er verschwamm fast mit dem Hintergrund. Sein Tenor war ideal für diese Rolle. Eigentlich ist er ein Miles im erwachsenem Alter. Der helle, zu jeder Koloratur fähige Tenor strahlt immer noch Unschuld aus. Gleichzeitig ist die Stimme voll balsamischer Verführungskraft. Da verzauberte und verlockte jeder Ton!
Das klein besetzte Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Stephan Zilias ließ die Musik leuchten. Aber auch die grellen, expressionistischen Töne hatten ihren angemessenen Platz. Klarheit dominierte. Wie freue ich mich darauf, dieses Orchester unter diesem Dirigenten mal wieder live zu hören!
Der Stream war gut gefilmt und lief ohne Probleme. Ich habe im Laufe des Stücks fast vergessen, dass ich „nur“ vor meinem großen Fernseher saß.
„The Turn of the Screw“ ist ein hörenswertes Stück. In dieser Inszenierung mit diesem Orchester und mit diesem Ensemble ist es sowohl hörenswert als auch sehenswert. Ich liebe eher die Musik der (Spät)Romantik, aber auch dies hat mir gefallen. Die Karte für den Stream war ihr Geld wert! Der geringe Preis macht es einfacher, auch mal Neues und Unbekanntes zu entdecken.
Weiter so, ich freue mich auf die nächsten Inszenierungen!
Achim Riehn