Wie macht die Staatsoper Hannover das nur? Jede neue Inszenierung der Intendanz von Laura Berman ist ein zum Nachdenken anregender Treffer. Das gilt auch für diese „Così fan tutte“. Wunderbare, zu Herzen gehende Gesangsleistungen treffen auf ein poetisch-schlichtes Bühnenbild und eine Regie, die den Kern der bösen Geschichte gegenwartsnah und zur Diskussion anregend herausarbeitet.
In dieser 1790 uraufgeführten Mozart-Oper ist Liebe nur ein Wort. Sie ist eine Fiktion. Wer an sie glaubt, der ist naiv. Jederzeit können die Gefühle wechseln, jede Person ist verführbar, jede Person kann jede Person lieben. Lorenzo da Ponte hat eine überaus moderne Thematik in ein Libretto gegossen, herausgekommen ist ein grausames, böses, zynisches Spiel. Das war zur Entstehungszeit so radikal, dass dieser Text auf heftige Abneigung gestoßen ist. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das geändert, die Thematik ist in der Moderne angekommen.
Da Ponte hat dies in eine damals übliche Lustspielkonstellation eingewoben. Zwei junge Soldaten wetten mit dem alten, zynischen Don Alfonso um die Treue ihrer Geliebten. Sie verabschieden sich in den Krieg, kommen aber verkleidet wieder. Jeder versucht, die Partnerin des anderen zu verführen. Und es kommt, wie es kommen muss, es gelingt. Aus dem Verkleidungsspaß wird bitterer Ernst. Jeder ist verführbar. Am Schluss finden sich in einer Art Happy End die Paare wieder. Aber die Frage bleibt offen: Wie kann man mit dieser Verunsicherung weiterleben? Treue und monogame Liebe sind nur soziale Konstruktionen.
Zu diesem bösen Spiel erklingt die leichte, unbeschwerte Musik von Mozart. Wollte Mozart die Untiefen nicht sehen oder ist seine Musik eine Art Gegenpol? Die Musik drückt Gefühle aus, diese Gefühle sind echt. Im Programmheft wird die berechtigte Frage gestellt: Wenn der (Selbst)Betrug so süß klingt, ist er dann nicht automatisch auch ‚richtig‘?
Jede Inszenierung muss die unglaubwürdige Handlungskonstellation plausibel machen. Es ist in der Realität kaum zu glauben, dass zwei Männer praktisch nur mit Schnurrbärten verkleidet die Partnerin des anderen verführen können, ohne erkannt zu werden. Außerdem schiebt das Libretto, vielleicht dem Zeitgeist von 1790 folgend, die Schuld allein den Frauen zu. Und wie mit der unklaren Situation am Schluss umgehen? Es ließe sich als unbeschwertes Lustspiel inszenieren, aber das würde die Tiefe und die Radikalität der Geschichte ausblenden.
Das Team um Regisseur Martin G. Berger hat dies mit einer neuen Fassung gelöst. Aus dem alten Zyniker Don Alphonso und seiner jugendlichen Gehilfin Despina wird ebenfalls ein Paar, im gleichen Alter wie die im Libretto verbundenen Paare Fiordiligi und Gugliemo sowie Dorabella und Ferrando. Drei Paare gleichen Alters, sechs Menschen, die sich schon lange kennen. Don Alphonso und Despina haben die Freunde auf ein Wochenende in ihr paartherapeutisches Zentrum einge¬laden.
Zur Ouvertüre wird in einer Videoeinblendung die Fahrt zum Tagungsort gezeigt, in alten Fotoalben wird geblättert, Kinderbilder der sechs Protagonisten werden aufgeschlagen. Dorabella und Ferrando haben ihre kleine Tochter dabei. Alles ganz normal, man begrüßt sich, freut sich. Offenbar findet parallel ein Seminar mit dem Thema „Polyamorie – die neue Treue“ statt. Don Alphonso und Despina schlagen ein Spiel aus dem Seminar vor: erkennen sich Paare nackt im Dunkeln? Und so nimmt etwas seinen Lauf, das alle schließlich in Verwirrung und Zweifel stürzt. Liebt man in der richtigen Konstellation, ginge es auch anders, ginge es auch ganz anders? Je tiefer diese Reise ins Innere geht, desto stärker werden die sechs Menschen mit Bildern ihrer Kindheit konfrontiert. Dezente, manchmal ironische, aber immer stimmungsvolle Einblendungen (realisiert von Vincent Stefan) zeigen diese Rückblicke. Die Videos werden auf schlichte Vorhänge projiziert, es entstehen so Bilder wie aus einem überdimensionalen Fotoalbum.
Geerdet wird die Geschichte durch die Tochter (gut gespielt: Kristina Tihomirov). Sie begleitet die Personen, steht manchmal vor der Szenerie und findet wahrscheinlich ihre Eltern nur noch peinlich. Aber wie war es, als die Eltern selbst noch Kinder waren? Insbesondere im zweiten Akt wird die Inszenierung zu einer seelischen Tiefenbohrung. Zur Scheinhochzeit am Schluß verwandelt sich die Bühne in ein großes Kinderland mit riesigen Teddybären und überdimensionaler Hochzeitstorte. Das ist ein Moment, wo die Inszenierung dann fast ein bisschen über die Stränge schlägt. Ferrando in Frauenkleidern, Fiordiligi in sehr männlichen Outfit – das deutet noch weitergehende Möglichkeiten an. Aber dem geht die Oper nicht mehr nach und überlässt Weiteres der Phantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer.
Die Kinder treten aus ihren Videos hervor und machen dem Treiben ein Ende. Am Ende sitzen die sechs Erwachsenen da, blättern in ihren Fotoalben, wohl jetzt ohne Illusionen. Die Musik Mozarts suggeriert ein jubelndes Finale. Aber wessen Triumph feiert sie? Fragen bleiben offen, wie bei aller großen Kunst. Als Zuschauender traut man nun weder den Personen noch der Musik.
In dieser Inszenierung sind alle von Anfang an in alles eingeweiht. Damit diese neue Geschichte zu Musik und Text passt, haben Martin G. Berger und Premierendirigent Michele Spotti die Musik behutsam angepasst. Die Frauen sind dabei, wenn die Männer ihren Plan besprechen. Despina stimmt mit ein, wenn Don Alphonso die Spielregeln bespricht. Duette und Terzette weiten sich so gleich zu Beginn zu großen Ensembles. Auch die Rezitative sind teilweise für die neue Geschichte umgeschrieben worden, die Übertitel sind frisch und gegenwartsnah. Ich verstehe es, wenn man solchen Bearbeitungen kritisch gegenübersteht, denn oft ist es nicht gelungen. Hier geschieht dies aber, so meine Meinung, sensibel und mit viel Hochachtung vor dem Original. Die Bearbeitung hebt diese Oper in die heutige Zeit.
Das sehr poetische Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl, zusammen mit dem Licht von Sascha Zauner und den modern-eleganten Kostümen von Esther Bialas, trägt ganz entscheidend zur Wirkung der Inszenierung bei. Zentrales Element ist ein Wald aus von der Bühnendecke herabhängenden Stangen. Sie stellen sich als bewegliche, fragile Lichtstreben heraus, die jedem Bild eine zauberische Eigenständigkeit verleihen. Mal bilden sie einen Gespensterwald, in blaues Licht getaucht, in dem sich die Personen verlieren und verirren. Ein anderes Mal verwandeln sie sich in Vorhänge aus gleißendem Licht, in Farbschleier. Ich wurde in eine Welt mystischer Geschichten versetzt. Der bösen Geschichte verleiht dies so eine tröstlich-magische Färbung. Die hinzutretenden überdimensionalen Kindheitselemente wie Hochzeitstorte und Teddys verstärken den traumartigen Charakter der Szenerie noch, haben für mich aber auch einen Hauch von Bedrohlichkeit. Die Kindheit war nie das Paradies, an das wir uns erinnern.
Es gibt hier im Ensemble so viele gute Sängerinnen und Sänger, dass für diese Oper zwei gleichwertige Besetzungen bereitstehen. In der besuchten Aufführung hatte die Parallelbesetzung zur Premiere ihren Auftritt. Ich nenne das absichtlich nicht Zweitbesetzung, denn es gab hier nur Erstklassiges.
Großartige, jugendlich frische Sängerinnen und Sänger und das Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung von Kapellmeister Giulio Cilona sorgten für einen mitreißenden Mozart-Abend. Die Musik funkelte, schimmerte und strahlte und war immer präzise auf dem Punkt. Francesco Greco am Hammerflügel begleitete die Rezitative einfallsreich und lebendig mit Motiven aus der Oper.
Die Sängerinnen und Sänger verwandelten ihre Arien und Ensembles in Momente voller Schönheit. Auch die schauspielerischen Anforderungen des Konzepts wurden aufs Beste umgesetzt. Sarah Brady als Fiordiligi ließ ihren Sopran erstrahlen, bravourös meisterte sie die Anforderungen der schweren Partie. Ihre Stimme hat sowohl die Höhe als auch die für die Rolle notwendige Tiefe.
Als Gast sang die junge Carmen Ataza die Dorabella. Ihr warmer, leuchtender Mezzo passte wunderbar zu ihrer Rolle. Für die Zukunft lässt das Großes erwarten.
Die Rolle der Despina erschien wie gemacht für Mercedes Arcuri. Selbstbewusst, durchtrieben, funkelnd in den Koloraturen, eine perfekte Rollengestaltung.
Als Don Alphonso überzeugte Yannick Spanier. Er verstand es hinreißend, mit seinem schönen Bass diesen ursprünglich ältlichen Herrn in einen jugendlichen Zyniker zu verwandeln.
Ferrando fand in Sunnyboy Dladla eine großartige Verkörperung. Seine fast androgyne Stimme und die reinen Höhen zogen unweigerlich in den Bann.
Als Guglielmo zeigte James Newby die Qualitäten, die ihn auch als Liedsänger auszeichnen. Weichheit, Dramatik, alles ist drin, ein hervorragendes Rollenportrait.
Der Opernchor hatte zur Hochzeitsszene seinen gelungenen Auftritt von der Seitenbühne her. Zum Schlussapplaus wurden sie über Video zugeschaltet.
Diese „Così fan tutte“ nimmt den dunklen Kern der Geschichte an und versetzt ihn sensibel in die heutige Zeit. Inszenierung, Bühne, Gesang und Musik fügen sich zu einem magischen Abend zusammen. Das war frisch, witzig, innovativ – ein Mozart für das 21. Jahrhundert. Die Staatsoper Hannover hat den „Oper! Award“ als bestes Opernhaus 2020 gewonnen, zu Recht, wie auch dieser Abend wieder zeigte. Hier sprüht alles vor Leben und Kreativität, hier gibt es Wagemut, hier gibt es nichts Abgeschmacktes. Wer hier Inszenierungen versäumt, der ist selbst schuld.
Achim Riehn