Endlich hatte ich die Gelegenheit, einmal die Uraufführung einer Oper zu erleben. Geplant war die Uraufführung von „Der Mordfall Halit Yozgat“ schon im Frühling 2020, die Pandemiesituation führte dann aber dazu, dass die Premiere verschoben werden musste. Nun kam es zum Glück dazu.
Es hat sich wirklich gelohnt. Eine aktuelle Geschichte, emotionale und fast beängstigende Musik, ein sich entblätterndes und dann in einem Schneesturm verlierendes Bühnenbild – dieses Gesamtkunstwerk ließ mich die Zeit vergessen.
Der Komponist Ben Frost (* 1980) ist in Melbourne in Australien geboren und lebt nun schon lange Jahre auf Island. Seine künstlerische Arbeit umspannt Alben mit elektronischer Musik, dazu komponiert er Musik für Tanz und Theater. Bekannt ist er auch als Filmkomponist, zum Beispiel für den preisgekrönten Spielfilm „Sleeping Beauty“ und für die Netflix-Serien „Fortitude“ und „Dark“. „Der Mordfall Halit Yozgat“ ist seine zweite Arbeit für die Opernbühne. Die Oper ist ein Auftragswerk für das Staatstheater Hannover.
Wie ist man in der Vorbereitung auf diesen Stoff gekommen? Im Jahr 2015 war Ben Frost bei den Arbeiten für einen Film über die europäische Flüchtlingskrise vor der Küste von Lesbos Zeuge des Untergangs eines Boots mit Flüchtlingen. Die Aussagen des Produktionsteams und das Filmmaterial gingen als Beweismaterial in eine Dokumentation des Recherchekollektiv Forensic Architecture ein, die dieses im Namen der Opfer dieser Katastrophe erstellt hat. Ungefähr zeitgleich zu dieser Dokumentation sprach Laura Berman, damals designierte Intendantin der Oper Hannover, Ben Frost wegen eines Opernprojektes für Hannover an. Es entstand die Idee, aus einer Recherche von Forensic Architecture eine Oper zu machen.
Die Wahl fiel dann auf einen der NSU-Morde, die Ermordung von Halit Yozgat. Der Prozess hatte viele Fragen offengelassen. Forensic Architecture hatte hier in einer Gegenrecherche zu den offiziellen Ermittlungen sämtliche verfügbaren Informationen zusammengestellt und versucht, den Ablauf zu rekonstruieren. Diese Recherche wurde dann für die Documenta 2007 aufbereitet: was ist in den 9 Minuten und 36 Sekunden in den 77 Quadratmetern des Cafés geschehen?
Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in dem Internet-Café in Kassel ermordet. Die Prozessakten sind für Jahrzehnte verschlossen. Wichtige Fragen hat das Urteil nicht geklärt. Bei den polizeilichen Ermittlungen stellte sich heraus, dass zur Tatzeit ein Mitglied des Verfassungsschutzes im Café anwesend war. Dieser will aber weder den Mord bemerkt haben noch beim Herausgehen die Leiche hinter dem Empfangstresen gesehen haben. War das eine Lüge? War er zufällig dort? Was hat er gesehen? Ein Mensch ist tot, die Angehörigen bleiben mit diesen Fragen zurück.
Die Recherche von Forensic Architecture spielt die entscheidenden 9 Minuten 26 Sekunden bis zum Auffinden des Toten aus der Perspektive der sieben Anwesenden durch. Der Zeitraum konnte präzise aus den Login-Daten der Anwesenden rekonstruiert werden, Grundlage waren zudem ihre Zeugenaussagen. Die Recherche ist der Versuch zu klären, wie sich die Rolle des Verfassungsschutzmitarbeiters darstellt. Sie deutet darauf hin, dass er den Täter gesehen haben muss oder selbst der Täter gewesen sein könnte. Aber die sieben Perspektiven ergeben kein eindeutiges Bild, sie lassen verschiedene Ereignismöglichkeiten zu.
Das Geschehen ist nicht sicher geklärt. Der, der Auskunft geben könnte, schweigt. Die Oper wirft die Frage auf, wie es Gerechtigkeit geben kann, wenn es keine Gewissheit gibt. Kann es Gerechtigkeit geben, wenn der Staat und seine Behörden die Tat nicht klären können oder wollen? Halit Yozgat ist tot, aber für seine Familie wird das nie abgeschlossen sein. In allen sieben Perspektiven der Anwesenden gibt es diesen schrecklichen Moment, wie der Vater seinen toten Sohn entdeckt. Siebenmal gibt es diesen Schrecken – und siebenmal keine Erlösung, keine Gerechtigkeit. Der Schrecken hat kein Ende. Was für eine Botschaft für uns alle kann daraus abgeleitet werden – und ist das überhaupt möglich? Auch die Beantwortung dieser Frage bleibt uns überlassen.
Wie setzt man nun so ein Geschehen in Musik um? „Die Geräuschkulisse der Geschichte ist weitgehend still – ein Internet-Café ist kein lauter Ort. Doch wir erleben das Zeitfenster einer schrecklichen Gewalttat, unabhängig von der realen akustischen Umgebung.“ So sagt es Ben Frost im Programmheft.
Die Musik bettet das Geschehen emotional ein, bildet die emotionale Ebene ab. Nichts von der Musik ist real in diesem Café. Sie lauert hinter dem Geschehen wie ein Monstrum aus einer anderen Welt. Ben Frost erläutert mit einem Verweis auf den Vorspann zu Michael Hanekes Film „Funny Games“, worauf es ihm ankam: „Die Musik übertönt [dort] das Bild, sie wird seltsamerweise zum einzig ehrlichen Element. Sie sagt, was in Wahrheit auf uns zukommt. Ähnlich habe ich versucht, eine Art unerbittlichen, alles und alle lähmenden Schrecken einzufangen.“
Wie klingt Angst? Ben Frost hat sich bei der Beantwortung dieser Frage an den Streichquartetten von Dimitri Schostakowitsch orientiert. Er baut die Musik der Oper auf herab- und heraufstürzenden Figuren der Streicher auf, hektisch und aggressiv. Es erinnert wirklich in der Stimmung an Schostakowitsch, ich musste sofort an den schnellen Satz des 8. Streichquartetts denken. Es ist eine Musik des Schreckens ohne Ausweg. Auch Bernard Herrmanns Musik zu „Psycho“ kam mir in den Sinn. Aber diese Musik hat eine zweite Ebene, so sagt es Ben Frost im Programmheft. „[Wenn] sich die Wahrnehmung über diese hochaufgetürmten hektischen Bogenbewegungen hinauszoomt, nimmt die Musik eine eher horizontale, fast meditative Drone-Qualität an. Genau das hatte ich mir vorgenommen zu komponieren.“
Entstanden ist so eine Musik, die sogartig, hypnotisch und böse ist und die gleichzeitig in eine Art aufgeregte Trance versetzt. Es ist eine kleine musikalische Besetzung aus Streichern und Schlagwerk, die im Hintergrund der Bühne spielt. Die Musik wird elektronisch verstärkt, sie ist aber live. Manchmal kommen Windgeräusche oder Fetzen aus dem Computerspiel dazu, das zwei der Anwesenden spielen. Es ist ein pulsierender, vorantreibender Klangteppich. Elektronische Musik mischt sich mit aggressivem Streicherklang, mit Techno-Rhythmen, mit Klängen wie aus dem Heavy Metal. Aber auch traumverlorene Passagen sind zu hören. All dies zusammen ergibt einen Klangteppich, der langsam und unerbittlich alle Sinne kapert. Es hatte die Wirkung einer Art von bösartiger Hypnose.
Im Laufe des Abends zerfällt die Musik immer mehr, verliert an Struktur. Aus Hypnose wird Betäubung. Ben Frost sagt es so: „Musik ohne Struktur empfinde ich als äußerst unangenehm. Während der Zusammenarbeit mit dem Arrangeur Petter Ekman haben wir es so ausgedrückt: Es handelt sich hier um diese Maschine, um eine Art musikalisches Jenga. Wie viele Blöcke können wir entfernen, bevor die verbleibende Struktur versagt.“
Die Inszenierung von Ben Frost, das Bühnenbild von Lisa Däßler und Mirella Weingarten und die Kostüme von Lisa Däßler und Kerstin Krüger (die einzigen Farben in einer weißen Welt) bilden das alles kongenial ab. Siebenmal wird das Geschehen gezeigt, aus den Blickwinkeln der Menschen, die im Café waren. Sieben Interpretationen, keine endgültig. Dazu kommt der Blickwinkel des Publikums. Das Libretto von Daniela Danz basiert auf den originalen Zeugenaussagen. Der siebenmal wiederholte Text wandert durch die Rollen, die Darstellerinnen und Darsteller nehmen in jedem Durchgang andere Rollen ein. So wird versucht, einen ganz neutralen Zugang zu finden.
Auf einem Podest ist das Internet-Café nachgebaut, zuerst vollständig von weißen Wänden umhüllt. Es wirkt unwirklich, so als ob ein riesiger Eiskristall vor uns liegt. Fast alle Darstellerinnen und Darsteller sind in diesem Kristall, der das Internet-Café abbildet. Dann beginnt die Musik, die Sprachfetzen des Textes legen sich darüber. Auf der dreigeteilten Übertexttafel kann man dies simultan mitlesen. Ganz allmählich werden die Wände des Kristalls abgebaut, man kann hineinschauen, sieht endlich Sängerinnen und Sänger. Ab und zu dreht sich das Bühnenbild weiter. Diese Veränderungen des Bühnenbilds werden fast choreographisch durch Mitglieder der Statisterie durchgeführt. Von jedem Platz im Zuschauerraum ergibt sich so ein anderer Blickwinkel. So wie die sieben Zeugen bekommen auch wir nun siebenmal unsere eigene Sicht auf die Geschichte.
Vor Beginn der Oper gibt es eine kurze, aus dem Off gesprochene Einführung in das, was auf die Bühne kommt: Die Rekonstruktion eines Mordes. Die ersten drei Durchgänge laufen hintereinander ab, durch Momente der Stille getrennt. Der Text ist zuerst vor dem Hintergrund der Musik kaum zu verstehen, es sind zu Beginn fast nur so etwas wie Farbeffekte. Mit jedem Durchgang aber wird die Musik etwas zurückhaltender, die Stimmen gewinnen an Kontur. Ab dem dritten Durchgang kennt man den Text, kennt man man den Ablauf. Langsam gelingt es, das einzuordnen, den Personen zuzuordnen, die von Runde zu Runde ihre Rollen wechseln. Man identifiziert auch die Schüsse in der Musik.
Nach der dritten Durchgang gibt es eine größere Unterbrechung, die Stimme aus dem Off erläutert, was wir auf der Bühne gesehen haben, wer die Personen sind, was sie wann tun, was die unklaren Punkte des Geschehens sind. Alles Unerklärliche der ersten drei Durchgänge und des Textes fällt auf einmal an seinen Platz.
Dreimal wird so recht realistisch in das Geschehen hineingeleuchtet, aber ganz langsam verändert sich das in den weiteren vier Durchgängen. In der dritten Runde taucht eine weiße Gestalt auf der Bühne auf, mit einem weißen Gewehr auf dem Rücken, wie eine Diana auf der Jagd. Bricht hier das Mystische, Übernatürliche ein in das Geschehen? Weitere weiße Gestalten, gesichtslos unter ihren Kapuzen, kommen rund um das nun immer leerer werdende Podest des Cafés hinzu. Schneetreiben setzt ein, Nebel legt sich über den Boden, eine Windmaschine treibt das über die Bühne. Genau wie der Statisterie beim Abbauen des Cafés kann man nun den Bühnenarbeitern zusehen, die das bedienen. Zwischen den weiteren Runden ist nun das Geräusch des Windes zu hören. Im siebten Durchgang ist nur noch eine weiße Schneefläche da, auf der das Geschehen der sieben Personen abläuft, zwischen den Gestalten in ihren Schneeanzügen hindurch.
Wie ist diese albtraumhafte Veränderung zu interpretieren? Ben Frost sagt dazu nichts im Programmheft, ich kann also nur meine spontane Sicht dazu darstellen. Auf der Bühne läuft der Versuch einer Rekonstruktion des Mordgeschehens ab, der Versuch einer Klärung. Aber es gibt keine Klärung. Die Zeit vergeht, es gibt keine Erlösung, keine Befreiung, keine Gerechtigkeit. Die Zeit verwischt den Ort des Geschehens, reißt den Ort nieder, hinterlässt nichts als eine leere Fläche. Der Wind und der Schnee einer Welt weit in der Zukunft legen sich darüber. Menschen in dieser Zukunft wandern darüber hinweg. Die Geister der Vergangenheit (das Ensemble) wiederholen zwischen ihnen den Kreislauf, versuchen Erlösung zu finden, die es niemals geben wird. Ihre Gesten und Stimmen werden zunehmend verzweifelter, das ist mein Eindruck. Am Schluss liegt Halit Yozgat allein auf der Bühne, die Schneegestalten um ihn herum. Sie gehen weiter. Nichts ist geklärt. So allein müssen sich auch die Angehörigen von Halit Yozgat fühlen.
Es ist total faszinierend, wie parallel zu dieser Veränderung des Geschehens Textfetzen auf einmal eine Art Eigenleben bekommen. Es findet sich da (sinngemäß zitiert) gleich zu Beginn jedes Durchgangs der Satz „Es ist kalt in Deutschland“. Er spiegelt sich im Schnee wieder. Zum Ende eines Durchgangs hört man den Satz „Das ist Deutschland!“, der immer mehr wie eine Art Fazit wirkt: Es gibt hier keine Erlösung, keine Gerechtigkeit. „Ich will, dass das aufhört“ – dieser Satz wird zum bitteren Motto des ewigen Kreisens.
Musik und Geschehen auf der Bühne lassen sich nicht trennen. Ich kann es nur als Einheit betrachten und bewerten. Das großartige Ensemble (Celine Akçağ, Tahnee Niboro, Gudrun Pelker, Mathias Max Herrmann, Yannick Spanier, Richard Walshe, Sascha Zarrabi) agiert wie ein Körper, was auch an den ständig wechselnden Rollen liegt. Mit wunderbarer Präzision und geradezu schlafwandlerischer Abstimmung untereinander wurde hier gespielt und gesungen. Das war eine große Leistung!
Die Musiker unter der Leitung von Florian Groß saßen hinter der Bühne. Erst im Verlauf des Geschehens wurden sie sichtbar, als die Wände fielen. Überaus beeindruckend bildeten sie den emotionalen Raum, in dem sich dieser bedrückende Traum abspielte. Besser und unerbittlicher konnte man diesen „Soundtrack“ kaum umsetzen.
Ein ganz großes Bravo auch für die Statisterie und die Mitwirkenden der Bühnentechnik. Es war staunenswert, wie präzise choreographiert und fast stoisch ruhig der ganze Kreislauf in Gang gehalten wurde.
Man darf diese Oper nicht versäumen! Ein ganz ungewöhnlicher und bedrückend faszinierender Opernabend erwartet uns. Musik und Inszenierung ziehen das Publikum unerbittlich hinein in diesen Abgrund ohne Klarheit. Nichts an diesem Mord wird ästhetisiert, nichts wird verkünstelt. Die Wucht der Geschichte überfällt einen unmittelbar, die Trauer und die Wut, sie sind da. Ich fühlte mit, immer verzweifelter. Kann es Gerechtigkeit geben? Die Oper lässt das offen. Ja, die Zeit wird alles abreißen rund um diese Tat, aber so etwas wie diese Oper fegt den Schnee des Vergessens weg.
Zum Schluss gab es einhelligen, begeisterten Applaus aus dem nicht vollbesetzten Haus für alle Beteiligten, sehr verdient! Leider steht das Stück nur noch zweimal auf dem Spielplan. Aber es wäre eine SÜNDE, wenn es nicht wiederaufgenommen wird! Ich werde es mir auf jeden Fall noch einmal ansehen dann. Opern aus vergangenen Jahrhunderten sind ja schön, aber das hier …. das kommt einem nah, das trifft ins Herz!
Achim Riehn