Das war ein spannender und interessanter Nachmittag im „aufhof“ Hannover, dem kulturell zwischengenutzten ehemaligen Galeria-Kaufhaus am Rand der Altstadt. Stephan Zilias, GMD der Staatsoper Hannover, gab uns Einblicke in die musikalische Welt des „Parsifal“, den er gerade an der Oper einstudiert hatte.
Ungefähr siebzig Interessierte hatten sich eingefunden. Auf der kleinen Bühne stand ein Flügel, an dem Stephan Zilias Platz nahm. Nach einer kurzen Begrüßung durch Ronald Clark, Kurator und Organisator der temporären Nutzung des leerstehenden Kaufhausgebäudes, ging es los.
Stephan Zilias nahm uns mit auf eine Reise durch die philosophisch-musikalische Welt dieses Stückes. Er sagte, dass dies kein belehrender Vortrag sein sollte, er sei kein Musikwissenschaftler, es würde ein Bericht aus der Praxis, mit vielen Musikbeispielen am Flügel. Er möchte etwas von seinem Zugang zu dem Werk erzählen und etwas von seiner Begeisterung und Faszination für das Stück an uns heranbringen. Der „Parsifal“ ist ein Stück, mit dem man sich ein Leben lang befassen kann. „Kein Wort dieser Welt wird dem völlig gerecht.“
„Parsifal“ hat fast keine äußere Handlung, das ist „echt radikal“. Die äußere Handlung wird in die Köpfe der Menschen verlagert, das Stück ist zu „95% Psychogramm“. Die Botschaft ist hoffnungsvoll: „Eine Gesellschaft kann neue Kraft gewinnen“. Das Stück ist keine eigentliche Oper, keine Musik für eine Handlung. Wagner hat es als Bühnenweihfestspiel bezeichnet. Das ist ein Begriff, der sich kaum in andere Sprachen übersetzen lässt, wie sich bei der Arbeit an der Inszenierung mit einem vielsprachigen Team gezeigt hat. Warum hat er das so genannt? „Ich habe keine Ahnung“. Alles, was Wagner vorher geschrieben hat, hat damit nichts zu tun.
Wie nähert man sich als Dirigent so einem Werk? Stephan Zilias blättert zuerst die Partitur einfach mal durch, schaut sich einige Sachen an. Er schaut insbesondere an, wie es musikalisch anfängt und wie es ausgeht. Ab jetzt spielte uns Stephan Zilias sehr viel am Flügel vor, um uns seine Gedanken mitverfolgen zu lassen.
Der Beginn ist ganz ungewöhnlich. Es sind keine gewichtigen Akkorde, es ist kein musikalischer Sturm, es ist ein ganz anderer Anfang als bei fast allen anderen Opern. Ganz besonders ist, dass es nur eine Stimme ist, es gibt keine Begleitung, keine Harmonisierung. Das ist ein „unglaublich intensives Klangerlebnis“, wenn dreißig Instrumente unisono diese eine Stimme spielen. „Das ist fast wie eine Beschwörung.“ Dieser Anfang ist mit Pausen durchbrochen, es ist eine „blockhafte Vorstellung der Bausteine“. Drei Bausteine werden uns so vorgestellt, sie sind auch unter den Namen Liebesmotiv, Gralsmotiv und Glaubensmotiv bekannt.
Das Ende des „Parsifal“ besteht aus genau diesen drei Bausteinen. Sie erklingen in derselben Tonart wie zu Beginn, aber nun stehen sie nicht mehr durch Pausen getrennt nebeneinander. Sie sind verschmolzen, miteinander verwoben, sie ergeben etwas Neues. „Parsifal“ ist die „Kombinationsgeschichte dieser Bausteine“ und diese Vereinigung geschieht genau hier am Ende des Werks. Das ist ein musikalisches Schließen des Lebenswerks, ein Testament. Es ist ein positiver Schluß, alles fügt sich endlich zusammen. Regie und Musik müssen dies in einer Inszenierung auch so ausdrücken.
Die Tonart an diesen beiden Stellen ist As-Dur, eine in der Sinfonik selten vorkommende Tonart. In dieser Tonart können die Streicher keine leeren Seiten benutzen, die obertonreich sind und einen hellen Klang ergeben. Auch in der Oper ist diese Tonart selten und wird dann für die Momente größter Innerlichkeit benutzt. Es ist eine „Kerzenscheinmusik“.
Wagner benutzt diese Klangbausteine, auch Leitmotive genannt, unglaublich geschickt. Er verändert und variiert sie permanent. Sie schaffen so psychologische Zusammenhänge, zeigen Veränderungen in Menschen und in Stimmungen. „Die Musik weiß immer mehr als der Text“.
Auch den Personen sind Leitmotive zugeordnet. Interessanterweise hat ausgerechnet Gurnemanz kein eigenes Leitmotiv und das, wo er die bei weitem umfangreichste Rolle hat. Er steht wohl mehr als zwei Stunden auf der Bühne! Ist er für die Geschichte unwichtig? Sein Name wird im Text kaum erwähnt, er ist irgendwie eine Figur ohne Profil. Sogar die kleine Rolle des ehemaligen Gralskönigs Titurel hat im Gegensatz dazu ein eigenes, royal klingendes Leitmotiv! Kein Leitmotiv, das verdeutlicht, dass es in diesem Werk nicht um Gurnemanz geht. Er ist aber der, dessen Geschichten die Gesellschaft am Leben erhalten.
Das Leitmotiv des Gralskönigs Amfortas ist voll von Schmerz, es ist erdenschwer, vollgepackt mit Leiden. Der Takt ist ein langsamer Dreiertakt, der an ehrwürdige Adelstänze erinnert. Parsifals Leitmotive besteht aus zwei Teilen, die durch eine variable Anzahl von Tönen getrennt werden. Marco Jentzsch, Sänger dieser Rolle hier an der Oper, hinterlegte den ersten Motivteil scherzhaft mit dem Text „Ein Tenor!“. Und genau das ist es, ein (Auftritts)Signal! Parsifals Leitmotiv wird im Laufe der Oper unglaublich verwandelt und spiegelt so die Entwicklung und Lebensgeschichte von Parsifal wieder.
Die Zauberin Kundry ist wohl Wagners spannendste Frauengestalt. Ihr Motiv ist faszinierend wandelbar und kann all ihre Facetten wiedergeben, Furie, Verführerin. Muttergestalt. „Am Schluß kann man in der Musik zuhören, wie sie ein anderer Mensch wird.“ Das Motiv des bösen Zauberers Klingsor besitzt eine charakteristische Akkordverbindung, die zur Blaupause für die Bösewichte in Hollywood geworden ist. Auch das bewies Stephan Zilias durch mehrere Klangbeispiele.
Sehr interessant ist das Leitmotiv „Der reine Tor“. Es erscheint zuerst nur im Orchester und formt sich erst im Laufe des Stückes in den Köpfen der Menschen. Der Glaube an eine Erlösung muss sich erst festigen.
„Parsifal“ löst die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Man kann nicht mehr unterscheiden, was vorher ist und was ist. Das wird besonders deutlich in der Erzählung von Gurnemanz über die Vorgeschichte, die so zur gelebten Gegenwart wird. Titurel steht für die Vergangenheit, Amfortas für die Gegenwart, Parsifal für die Zukunft.
Besonders ist auch der musikalische Rahmen. Wagner gibt keine Metronomangaben vor, es gibt auch keine Tempobezeichnungen von ihm. Das war wohl eine ganz bewusste Entscheidung: Die Harmonik allein soll das Tempo bestimmen.
Stephan Zilias schloss mit einem interessanten Satz: „Stücke kann ich nicht dirigieren, zu denen ich keinen inneren Bezug habe“. Vor Parsifal hatte er erst eine gewisse Scheu, aber das hat sich bei näherer Beschäftigung damit schnell gegeben.
Das war ein tiefschürfender, spannender und wahnsinnig interessanter Nachmittag! Stephan Zilias versteht es, sein Publikum auch abseits vom Dirigentenpult mitzureißen und zu begeistern. Bitte mehr solche faszinierenden Veranstaltungen! Leider ist der „aufhof“ nur etwas Temporäres – der gute Besuch (auch der Ausstellungen nebenan) zeigt, dass so etwas in der Stadt eine Zukunft hätte!
Achim Riehn