Ballett „Ikarus“: Kraftvoll, intensiv und ausdrucksstark

„Ikarus“ des griechischen Choreografen Adonis Foniadakis zur Musik von Julien Tarride ist eine Neukreation für das Ballett der Staatsoper Hannover. Und sie ist kraftvoll, intensiv, laut, bild- und ausdrucksstark. Hier mein Eindruck der Aufführung am 1. Mai 2025.

Schlussapplaus nach dem Ballett „Ikarus“. Foto (c) Achim Riehn

Der antike Mythos von Ikarus wird in diesem Ballett nicht nacherzählt. Der Kern der Geschichte dient als Inspiration. Es ist der Drang nach Freiheit, der Drang zum Ausloten aller Grenzen, selbst wenn es das Leben kostet. Spüren wir in Wagnissen und Grenzerfahrungen das wahre Leben? Kommen wir nur so dem Licht der Sonne näher? Genau darum ging es an diesem Abend.
Adonis Foniadakis setzt dies in einen Tanz um, der energiegeladen, feurig und körperbetont ist. Das ist Energie pur auf der Bühne, kraftvoll, athletisch. Das umzusetzen, stellt hohe Anforderungen an Tänzerinnen und Tänzer, aber hier sah das alles fast mühelos aus. Viele komplizierte Hebefiguren waren zu sehen, oft wurde ich an den eleganten, komplexen Fluss von Eistanz erinnert.
Das Zentrum der Bühne (Bühnenbild und Licht Sakis Birbilis) bildet ein rundes Podium, meist in Halbdunkel getaucht, von Nebel umwabert, von Licht wie von einem Feuerkreis umzogen. Hier findet ein Großteil des Geschehens statt. Das Podium ist wie ein Blick in andere Welten, Projektionen wie Wolken und magische Chiffren deuten dies an (Videos Julien Tarride).
Mit einem musikalischen Absturz beginnt der Abend, eine Akkordfläche sinkt immer mehr hinab in die tiefen Töne. Unvermittelt wird man hineingeschleudert in das Geschehen. Der Absturz steht hier am Beginn, aus dem Himmel geht es hinein in die Realität der Bühne. Ikarus landet im Halbdunkel, Flügel auf den Rücken. Die verschwinden, nur der Tänzer in blutrot bleibt auf dem Boden der Bühne zurück. Der Abend beginnt.
Ikarus in rot und Daedalus in einem weiß-pastellenen Trikot bilden das Zentrum des Abends. Später kommt das Ensemble dazu, es sind Spiegelungen und Dopplungen der Hauptfiguren, Inkarnationen ihrer Stimmungen, in gleichen Farben. Die Tänzerinnen nehmen dabei das Ochsenblutrot von Ikarus auf. Die Personen sind im Laufe des Abends dann kaum mehr zu unterscheiden. Auch sie versuchen, in komplexen Bewegungen und Hebungen den Himmel zu erreichen. Zuerst geschieht das meist in fast intimen Paarkonstellationen, dann kommen langsam immer mehr Personen dazu. Das Geschehen wird komplexer und wilder.
Das weiß bespannte Podium erlebt im Lauf des Abends dann eine Verwandlung. Die Tänzer ziehen es ab, eine spiegelnde, schwarze Fläche kommt zum Vorschein, das dunkle Meer unter dem fliegenden Ikarus. Von hinten taucht eine Art funkelnder Diamant auf, bühnenhoch, glitzernd, ein Abbild der tot- und lebenbringenden Sonne. Dieser Kristall hat in der Mitte ein Tor, das wie ein Tor zur Unterwelt in die Schwärze dahinter führt. Zuerst glüht der Diamant in den Farben des Abendrots, später wird das Licht immer heller, immer gleißender. Immer mehr Tänzerinnen und Tänzer quellen aus dem Kristall, jetzt auch in Grau, vereinen sich zu einem wogenden Ensemble. Immer schneller und immer emotionaler wird der Tanz. Zum Schluss taucht aus dem Diamanten ein Mensch auf, Ikarus, fügt sich in den Tanz des Ensembles ein. Ganz am Schluss tanzt er allein im Kristall, in zuckenden Bewegungen. Verbrennt er in der Sonne? Für mich sieht es so aus. Abrupt endet die Musik. Das Licht auf der Bühne erlischt. Der Tanz ist aus.
Gleichwertig neben dem faszinierenden Bühnengeschehen steht die für dieses Ballett komponierte klangmächtige Musik von Julien Tarride. Klangwogen sind das, die pulsierend und berauschend sind, die an die Musik des Techno erinnern, die den Zuhörer in Trance versetzen. Zum Schluss mischen sich aufgenommene Passagen der Streicher des Niedersächsischen Staatsorchesters und des Opernchores unter diese elektronische Musik, der Klang wird fast hymnisch, überirdisch, verzückt.
Das war ein ungewöhnlicher, intensiver, sehr konzentrierter Abend. Tanz und Musik faszinierten. Es gab Bilder zu sehen, die wirklich in Erinnerung bleiben, so wie dieser Diamant. Das Publikum feierte den Abend, feierte das Ensemble. Sehr verdient!
Text: Achim Riehn
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