„Chicago“: schwungvoll, begeisternd, große Klasse

Schwungvoll, begeisternd, böse, ein Genuss! „Chicago“ an der Staatsoper Hannover ist unbedingt sehens- und hörenswert. Die Inszenierung von Felix Seiler setzt den Fokus auf die Menschen. Jede Vorstellung ist ausverkauft, voll verdient!

Szene aus Chicago (c) Tim Mueller

Das Musical „Chicago“ gehört zu den erfolgreichsten Broadway-Musicals überhaupt. Zwei Mörderinnen auf dem Weg nach oben, eine böse Geschichte über eine böse Welt. Böse – und zugleich sehr vergnüglich. Die so unterschiedlichen Aspekte dieser Story werden in dieser Inszenierung mit großer Klasse und viel Spielwitz herausgearbeitet.

„Chicago“ spielt in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts und erzählt von einer Welt, in der Wahrheit und das Gute nichts zählen, und in der es nur auf die Inszenierung ankommt. Das ist unangenehm gegenwärtig.

Das Musical beruht auf einem Bühnenstück von Maurine Dallas Watkins, das im Jahr 1926 Premiere hatte. Es basiert auf der wahren Geschichte einer Frau, die ihren Mann erschoss und der es gelang, durch geschickte Selbstinszenierung freigesprochen zu werden. Erst nach dem Tod der Autorin wurde die Freigabe zur Verwandlung in ein Musical erteilt. Bob Fosse und Fred Ebb schrieben das Libretto, Fred Ebb darin auch die Liedtexte. Vertont wurde dies dann durch John Kander. Insbesondere der Eröffnungssong „All that Jazz!“ ist zu einem Kultstück geworden. Die Premiere fand 1975 in New York statt, über 900 weitere Vorstellungen schlossen sich an.

„Chicago“ ist eine böse Satire auf die amerikanische Justiz, Presse und Gesellschaft. Es ist aber auch ein Gegenentwurf zur herkömmlichen Oper, wo die Frauen meist das Opfer sind. Frauen nehmen hier ihr Schicksal selbst in die Hand und kämpfen sich nach oben. Der schnellste Weg nach oben in dieser sensationsgierigen Gesellschaft ist ein Mord, denn damit steht man im Licht der Öffentlichkeit.

Roxie Hart hat ihren Liebhaber getötet und lernt im Untersuchungsgefängnis Velma Kelly kennen, die ihren Mann und ihre Schwester umgebracht hat. Die Wahrheit ist schädlich, Rettung gibt es nur, wenn man die Öffentlichkeit für sich gewinnt mit tollen Geschichten. Mit Hilfe der käuflichen Anstaltsleiterin Mama Morton, des aalglatten Anwalts Flynn und der Presse, insbesondere der Klatschkolumnistin Mary Sunshine, schaffen sie es schließlich, freigesprochen zu werden und eine Bühnenkarriere zu beginnen. Auf der Strecke bleibt Roxies treuer, sie liebender Ehemann Amos. Aber das helle Scheinwerferlicht ist für Roxie und Velma vorbei, die nächste Mörderin beherrscht nun die Schlagzeilen.

Die Musik von John Kander ist eine Hommage an die Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, an den Beginn des Aufstiegs des Jazz. Jeder Song ist ein Tanz, jedes Stück sorgt dafür, dass nichts stillsteht in dieser atemlosen Geschichte. Die Musik ist dafür gemacht, dass sich die Personen der Geschichte im Rampenlicht des Theaters und damit auch vor uns präsentieren können. Inszenierung ist in dieser Gesellschaft eben alles – und so ist auch die Musik.

Felix Seiler bringt das Musical mit deutschen Dialogen (Übersetzung: Erika Gesell und Helmut Baumann) und englischen Songs auf die Bühne. Er löst die Geschichte aus dem Kontext der Zwanziger Jahre und betont die Aktualität der Geschichte. Er versetzt dabei aber das Geschehen nicht plakativ in die heutige Zeit, er macht es zeitlos. Die verhandelten Themen sind ja auch nicht an eine Epoche gebunden, das alles könnte jederzeit und überall spielen, auch jetzt, auch bei uns. Ein Blick in die zynischen Sensationsmedien von heute kann das bestätigen. Felix Seiler selbst wertet nicht, er zeigt es uns ohne einen erhobenen Zeigefinger. Wir müssen uns selbst ein Bild über diese verkommene, sensationsgeile Gesellschaft bilden. Und wir lassen uns einfach mitreißen durch eine Inszenierung voller Tempo und mit faszinierenden Szenenwechseln auf der offenen Bühne.

Das Bühnenbild von Timo Dentler und Okarina Peter besteht aus vier verschiebbaren Treppenelementen, es sind ansteigende Stufen, zwischen denen man hindurchschauen kann. Blitzschnell ergeben sich neue Raumkonstellationen. Showtreppe, Amphitheater, Arena, nach hinten gedreht der Rahmen für einen Innenraum, alles ist möglich. Szenarien werden durch kleine Elemente angedeutet, Stuhl und Schreibtisch reichen aus, um uns in das Büro des Rechtsanwalt zu versetzen. Ein großer, runder Spiegel senkt sich zu bestimmten Szenen aus dem Bühnenboden herab. Er verstärkt das, was die Treppen sagen: Alles hier ist eine Bühne, alles wird für einem Auftritt genutzt, alles dient der Selbstdarstellung. Es ist bezeichnend, wer diese Treppen nicht nutzt: Es ist Roxies Mann Amos, der einzige ehrliche Charakter in der Geschichte.

Die Lichtgestaltung von Fabian Grohmann unterstützt sehr stimmungsvoll die Szenerie, setzt die großen Showauftritte der einzelnen Personen intensiv ins passende Licht. Alles hier wird so zur Bühne.

Die Kostüme von Timo Dentler und Okarina Peter sind zeitlos und oft elegant und unterstützen den Regieansatz. Die Kostüme sagen: Die Menschen sind hier der Star oder versuchen, zumindest einer zu werden. Sie bringen die Farbe in das Bühnenbild, sie glänzen. Hier gibt es Glitzer, hier gibt es Pailletten. Wunderbar die silbern schimmernden Hemden der Polizisten, selbst die Polizei will sich hier ins rechte Licht setzen. Blitzschnell lassen sich Kostüme verwandeln, da wird aus einem Abendkleid schnell mal ein Mini. Beeindruckend, wie gut und unmerkbar die Kostümwechsel hinter der Bühne gelangen! Einzelne farbliche Hervorhebungen setzen Akzente: Der vorgeblich alles nur der Liebe wegen („All I care about is love“) machende Anwalt Flynn trägt rot, die korrupte Gefängnisdirektorin prachtvolles Silber von Kopf bis Fuß, die Klatschkolumnistin Mary Sunshine gelb. Ich dachte da sofort an die „Yellow Press“!

Die Choreografie von Danny Costello verleiht dem eine beschwingte, fantastische Leichtigkeit. Vielleicht wäre ohne das diese böse Geschichte auch kaum zu ertragen. Tänzerinnen und Tänzer können perfekt alles zeigen, was sie können. Der Tanz auf den Treppenelementen mutet manchmal fast halsbrecherisch an. Aber auch das passt ja zur Geschichte: Um hier nach oben zu kommen und da zu bleiben, muss man Sensationen präsentieren.

Neben der Inszenierung überzeugt auch die musikalische Umsetzung. Das in kleiner Besetzung spielende Niedersächsische Staatsorchester, ergänzt durch Gäste an den Saxophonen und am Banjo, spielt großartig unter der Leitung von Piotr Jaworski. Das swingt, das ist rhythmisch präzise, das ist mitreißend, das ist voller Spielfreude. Wir hören eine erstklassige Big Band, deren Musik sofort in die Beine ging.

Auch alle auf der Bühne sind ganz hervorragend. Schon allein für das virtuose, halsbrecherische Tanzen und Singen auf den Treppenstufen verdienen sie alle Hochachtung. Aber dazu der Gesang! So schön kann Musical sein!

Es ist faszinierend, wie unterschiedlich die drei weiblichen Hauptfiguren gestaltet sind. Hier in dieser Inszenierung liefern sich drei Diven einen großartigen darstellerischen und gesanglichen Wettbewerb. Für mich geht das unentschieden aus.

Jeannine Michèle Wacker als Roxie Hart ist das Zentrum der Handlung, voller Energie, eine mädchenhafte Mischung aus Unschuld und Berechnung mit klarem, schlanken Sopran. Mühelos versteht sie es, das Publikum um den Finger zu wickeln.

Karin Seyfried als Velma Kelly ist der perfekte Co-Star dazu. Eine Frau, eine Diva in jedem Moment, mit kraftvoller Stimme, voller Brillanz und Energie. Wenn sie auftritt, dann beherrscht sie die Bühne genauso eindrücklich wie es Roxie tut.

Stimmliche Wärme, Autorität und Mütterlichkeit, all das bringt Patricia Howell als Gefängnisdirektorin Mama Morton mit. Hier sehen und hören wir eine Diva ganz anderer Art, wie hören in jedem Ton, dass sie alles im Griff hat. Grandios ihr „When you’re good to Mama“.

Charmant und ein bisschen schmierig bringt Fabio Diso den Anwalt Billy Flinn auf die Bühne. Er kann sich mit seiner Ausstrahlung und seiner kraftvollen Stimme jederzeit neben den Diven behaupten.

Phillip Kapeller aus dem Ensemble der Staatsoper verwandelt den treuen, etwas dummen Ehemann Amos Hart in ein Glanzstück, zu Recht bejubelt. Das rührte an! Mit seiner hellen, klaren Tenorstimme machte er aus dem Song „Mister Cellophane“ einen der Höhepunkte der Vorstellung.

Ebenfalls großartig war die Mary Sunshine von Martin Mulders. Ihr/Sein Song „A little bit of good“ wurde zu einer wunderbar gesungenen Parodie auf Operngesang. Wir hörten und sahen eine wahrhafte Königin der Nacht der Regenbogenpresse!

Ebenso überzeugend waren die kleineren Rollen besetzt. Richard Patrocinio als Fred Casely wusste genauso zu überzeugen wie Christopher Bolam, James Cook, Leopold Lachnit und Tobias Stemmer. Ein Höhepunkt war für mich auch das hinreißende Sextett der Mörderinnen, neben Karin Seyfried noch Jessica Rühle, Daniela Tweesmann, Janina Moser, Maria Joachimstaller und Veronica Appeddu. Nicht vergessen werden dürfen auch die Statisterie und die großartigen Treppenverschieber, die perfekt in die Choreografie einbezogen waren.

Es war ein faszinierender Abend, anders lässt es sich nicht sagen. Eine passgenaue Inszenierung und eine tolle Ensembleleistung kamen zusammen. Dazu kam diese Musik, die mitriss und die böse Geschichte in ein irgendwie doch augenzwinkerndes Stück Theater verwandelte. Was will man mehr von einem Besuch in einem Musiktheater! Jede Vorstellung ist ausverkauft und das voll berechtigt. Wer das noch sehen will in dieser Saison, der sollte sich mit dem Kartenverkauf beeilen. Sehen und hören sollte man das auf jeden Fall – es ist ein Erlebnis! All that Jazz!

Achim Riehn

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Besprechung Vorstellungsbesuch veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.