Auf diesen Probenbesuch war ich besonders gespannt. In den Kostproben bekomme ich einen exklusiven Blick in eine neue Produktion. Es sind jedesmal faszinierende Eindrücke, die neugierig machen auf Inszenierung und Stück. Diesmal war ich zudem auch voller Vorfreude auf die Musik von Vincenzo Bellini. Zum Vorgespräch vor der Probe hatte Dramaturgin Sophia Gustorff den Regisseur Michael Talke und den Dirigenten Andrea Sanguineti zu Gast.
Michael Talke sagte, er lasse sich sehr gern ein auf neue Stücke. Aber sie müssen ihn wirklich interessieren, ansonsten würde er es nicht inszenieren. Hier wäre das leicht gefallen. Die Oper ist ein eher lyrisches Belcanto-Stück, es ist keine Komödie. Die Musik ist grundsätzlich anders als zum Beispiel bei Rossini und Donizetti. „I Capuleti e i Montecchi“ erfüllt nicht die Klischees des Belcanto, es ist keine Musik, die den Fokus allein auf die „Auftritte großer Diven“ legt. Diese Oper ist sehr geschlossen, die Musik ist „stark an das Erleben der Figuren angebunden“. Das ist „unfassbar kompakt, unheimlich dicht, unglaublich dramatisch“, das hat Michael Talke begeistert. „Es ist eine sehr psychologische Oper“. Regisseur und Dirigent waren sich einig: Es ist ihre Aufgabe, so eine Belcanto-Oper spannend zu inszenieren. Eine „diven-orientierte“ Inszenierung, die rein die Stimme ins Zentrum stellt, ist für sie nicht mehr zeitgemäß. „Heute suchen wir die Wahrheit in der Musik“. Das Libretto setzt andere Akzente als „Romeo und Julia“ von Shakespeare. Hier geht es nicht primär um die Liebesgeschichte. Wir erleben die letzten vierundzwanzig Stunden von Romeo und Julia mit. Der Titel der Oper deutet es an, es geht um einen bürgerkriegsähnlichen Konflikt zwischen zwei Gruppierungen. Es ist ein Kriegsgeschehen. Bei Bellini sind wir mitten in diesem Bürgerkrieg. Die Stadt wird von den Montecchi belagert, die sie von den Capuleti zurückerobern wollen. Eine Zukunft für das Liebespaar ist in dieser Situation aussichtslos. „Bellini stellt Musik zur Verfügung, die dieses Geschehen aushaltbar macht. Die Musik hilft, die Situation zu bewältigen.“ Die Oper spielt im Krieg, das ist ein sehr aktuelles Thema, die Leidtragenden sind die Menschen. Während der Konzeptionsphase hatten alle den Ukraine-Krieg im Kopf. Die Inszenierung nimmt diese Gegenwart auf. In der Probe, einer Bühnenorchesterprobe ab Beginn, sahen wir, dass dies in der Inszenierung aber sehr poetisch und behutsam geschehen wird. Die Oper hat eine Vorgeschichte: Julias Bruder ist von Romeo getötet worden. Dies wird offenbar wie ein traumatischer Flashback in die Handlung auf der Bühne eingebunden. Das Stück ist vielleicht eine Erinnerungsphantasie von Julia, es ist die Sehnsucht nach einer prachtvollen, friedvollen Vergangenheit, die nicht so zerstört ist wie die Gegenwart. Die Bühne ist zu Beginn eine Art Zimmer, später öffnet sich der Hintergrund zu einer nächtlichen Stadtlandschaft. Ein großer Bilderrahmen rahmt die Bühne ein. Der eher dunkle Raum wird sehr stimmungsvoll von leuchtenden Details in satten Farben zum Glühen gebracht. Geprobt wurde in Alltagskleidung, es gab nur Andeutungen der Kostüme zu sehen. In der Nachbesprechung kam heraus, dass die Vergangenheit durch Pracht gekennzeichnet ist, die Gegenwart durch mehr an das Heute angelegte Kostüme. Dirigent Andrea Sanguineti probte temperamentvoll mit dem Orchester jedes Detail der Musik. Und was ist das für eine Musik! Es sind unendliche Melodien, es ist Dramatik, es ist Schönheit, die fast schmerzt. Dazu sah ich schon in dieser Probe Gesangsleistungen, die mich zum Staunen brachten. Wer sich das nicht anhört, der ist kein wahrer Opernfreund, ich muss es so deutlich sagen. Hingehen, hingehen, hingehen!
Achim Riehn