Marco Goeckes Ballett „Der Liebhaber“ – ein poetisches Meisterwerk von seltener Intensität und Intimität

Vor anderthalb Jahren wurde Marco Goecke Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover. „Der Liebhaber“ ist die erste neue Choreografie für Hannover, die einen ganzen Abend füllt. Vor einem Jahr begannen die Proben zu diesem Stück, die pandemiebedingten Einschränkungen führten immer wieder zu Unterbrechungen. Jetzt hatte das Ballett nach dem Roman von Marguerite Duras endlich am 27. Februar Premiere, wenn auch nur online. Sie können den Stream auf der Startseite unter www.staatsoper-hannover.de und in der Mediathek sehen (noch bis zum 27.03.2021 verfügbar).

Foto und Copyright: Ralf Mohr

Ich habe mir einige Tage nach der Premiere die Aufzeichnung auf der Seite der Staatsoper angeschaut. Zu sehen war ein poetisches Meisterwerk von seltener Intensität und Intimität. Es hat mich ohne Einschränkung begeistert – und dabei bin ich kein Ballettfan.

Der die Vorlage bildende Roman aus dem Jahr 1984 erzählt die Geschichte einer an sich leidenden französischen Familie, er spielt in Indochina. Die vaterlose fünfzehnjährige Protagonistin („das Mädchen“) flieht aus den Konflikten mit der manisch-depressiven Mutter und den zwei Brüdern (einer roh und brutal, einer schutzbedürftig) in eine Affäre mit einem sehr viel älteren Chinesen. Auch er ist in Familienbande verstrickt, sein reicher Vater erwartet eine standesgemäße Heirat mit einer Chinesin. Für das Mädchen ist diese Beziehung eine Befreiung aus ihrer Situation, für ihn wird es die einzig wahre Liebe. Viele Jahre später, das Mädchen ist lange zurück in Paris, nun eine alternde Frau, ruft er sie noch einmal an. Er gesteht ihr, dass er sie immer lieben wird, bis zu seinem Tod. Die Einführung zum Ballett (im Video enthalten) erläutert dies alles, was sehr zum Verstehen der Geschehens auf der Bühne beiträgt.

Der Roman beleuchtet die Geschichte aus verschiedensten Blickwinkeln, er folgt keiner stringenten Dramaturgie. Marco Goecke gliedert die Geschichte, choreografiert klare Szenen, an der Musik orientiert. Auch das Bühnenbild von Michaela Springer und Marvin Ott gibt Struktur. Es ist auf das Wesentliche reduziert, eine blau wabernde Rampe erweckt Assoziationen an den Mekong, ein teures Auto zeigt den Reichtum des Chinesen, ein Container mit der Aufschrift „Saigon Paris“ steht für den Abschied. Andeutungen reichen, um eine Welt beim Anschauen entstehen zu lassen.

Dazu kommt der für Marco Goecke so typische Stil – flatternde Armbewegungen, fast marionettenhaft stilisierte Bewegungsabläufe, dunkle Kostüme und nackte Oberkörper, Schreie, eine nächtlich-bedrohliche Stimmung. Hier steht dies nicht für sich, wird nicht zum reinen Zeichen, zum Selbstzweck. Dieser Stil entfaltet sich hier und erreicht zu dieser Geschichte eine solche emotionale Wucht und Tiefe, das man kaum vom Bildschirm wegschauen kann.

Getragen und strukturiert wird der Abend von der Musik, die von vietnamesischer Musik bis hin zu modernen Klavierklängen reicht. Das Zentrum ist dabei Debussys Tondichtung „La Mer“, die das Staatsorchester unter Leitung von Valtteri Rauhalammi farbenprächtig zum Glühen bringt. Zu diesen sich wie Wellen auf dem Meer aufbäumenden Klängen bringt Marco Goecke das Aufeinandertreffen des Liebespaars auf die Bühne.

Dieses Zusammensein von Sandra Bourdais und Maurus Gauthier als Mädchen und Liebhaber ist von einer derartigen Zartheit, dass ich es kaum beschreiben kann. Die schnellen Armbewegungen umgeben sie wie ein Flirren, wie eine glitzernde Hülle. Hingabe, Selbstvergessenheit, das Stehenbleiben der Zeit, all diese Emotionen werden zum Glanz der Musik von Debussy zum Leben erweckt. Das geht in der Intensität weit über das hinaus, was eine romantisch-realistische Interpretation hätte erreichen können.

Zum Schluß des Abends spielt die Pianistin Martina Filjak einen fast traurigen Walzer von Chopin. Das Mädchen ist nun eine ältere Frau, das Geschehen liegt weit zurück. Der Anruf des Chinesen mit seiner Liebeserklärung konfrontiert sie mit ihrer Vergangenheit, auf der Bühne umarmen sich das Mädchen und ihr älteres Ich. Es gibt kein Happy End, das Ende ist melancholisch, die Vergangenheit lässt sich nicht erwecken.

Ergriffen bleibt man als Zuschauer zurück, wenn das alles endet. Wenn das schon am Bildschirm so intensiv wirkt, wie wird das erst wirken, wenn man live dabei sein wird? Vielleicht hatte die lange Entstehungszeit in schwerer Zeit doch etwas Gutes. Sie hat Marco Goecke dazu geführt, sich noch tiefer in den Stoff hineinzuversenken und etwas wirklich Großartiges zu schaffen. Er hat dazu Tänzerinnen und Tänzer, die dies mit voller Hingabe und unglaublicher Präzision umsetzen können. Hier ist ein Team zusammen mit seinem Ballettdirektor auf dem Weg zur Weltspitze.

Achim Riehn

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