Vorstellung „Alcina“ am 23.02.2020

Barockoper … Ich gestehe, dass ich weder ein Spezialist für die besonderen Gegebenheiten dieses Genres bin noch ein besonderer Fan dieser Art von Musik. Rezitative und Arien im A-B-A-Stil im steten Wechsel, so ganz meins ist das nicht. Im Herzen bin ich eben ein (Spät)Romantiker. Aber über diese Oper in dieser gefeierten Inszenierung von Lydia Steier – vom Theater Basel übernommen – hatte ich nur Gutes gehört. Lydias Steiers „La Juive“ war mir zudem noch in bester Erinnerung. Ich wurde nicht enttäuscht!

Der Inhalt der Oper ist recht verwickelt, aber im Kern schnell erzählt. Die Zauberin Alcina lockt Helden auf ihre Zauberinsel und verwandelt sie in Tiere, Pflanzen oder Gestein, wenn sie ihrer überdrüssig geworden ist. Ihr augenblicklicher Favorit ist Ruggiero. Bisher ist ihm das Schicksal seiner Vorgänger erspart geblieben, denn Alcina hat sich wirklich in ihn verliebt.
Ruggieros Verlobte Bradamante (verkleidet als ihr eigener Bruder Ricciardo) und sein Erzieher Melisso sind auf der Insel gelandet, um ihn zu retten. Nach vielen Wirrungen wird schließlich Ruggiero dazu gebracht, Alcina zu verlassen und die Quelle ihrer Zauberkraft zu zerstören. Alcina kämpft um Ruggiero, aber sie verliert. Da Alcina zum ersten Mal wirklich liebt, versiegt ihre Zauberkraft.

Diese Haupthandlung wird durch einige weitere Personen und ihre Verstrickungen in die Geschichte bereichert und aufgelockert. Alcinas Schwester Morgana ist in die als Mann verkleidete Bradamante verliebt, Alcinas eifersüchtiger Gefolgsmann Oronte (in Morgana verliebt) versucht, die Handlung zu stören, der Knabe Oberto sucht seinen (von Alcina verzauberten) Vater.

Diese Oper ist nicht nur ein Fest der Barockmelodien. Es ist eine Geschichte über den Reiz des Fremden. Genau diesen Aspekt arbeitet die Inszenierung heraus. Alcinas Insel erscheint vor uns als bonbonbuntes Wunderland. Zauberwesen sitzen auf Felsen, man kann ihnen auch einmal das Herz aus der Brust nehmen, ein Sperrholzmeer wogt. Liebe ist nichts Ernstes, sie ist etwas Leichtes, Unverfängliches, sie ist etwas, was nichts zählt und was schnell vergeht.

Leichtigkeit, eine Prise Ironie, bunte Farben – es scheint, als ob die Inszenierung darauf setzt, uns mit Schönheit einzulullen. Aber diese Sicherheit trügt. Das Zauberreich der Alcina, eine Kreuzung aus einer bunten, indianisch anmutenden Welt mit einer großen Ausstattungsrevue, ist ja nur die eine Seite. Es gibt da ja noch den nüchternen grauen Alltag, die so unexotische Welt der Realität, die Welt Bradamantes.

Lydia Steier legt es darauf an, diese Unterschiede herauszuarbeiten. Es handelt sich ja auch um unterschiedliche Auffassungen von Liebe, die Liebe ohne feste Bindungen kollidiert mit der Liebe als strikt monogame Paarbeziehung. Freiheit und Verlockung trifft auf nüchterne Vernunft. Alcina und Bradamante verkörpern diese beiden Pole, sie sind Verkörperungen dieser beiden Auffassungen. Sie stehen für die Kräfte, in deren Spannungsfeld der arme Ruggiero fast zerrissen wird. Die Oper wird so zu einer großen Allegorie über die Liebe. Bradamantes Business-Grau ist dabei der denkbar größte Gegensatz zum Glamour, der Alcina wie eine Aura umgibt. Schon im ersten Bild stehen diese beiden Welten sich gegenüber – Morgana als buntes Zauberwesen, Bradamante und Melisso als Menschen im grauen Anzug. Ruggiero muss sich in der Oper entscheiden, er steht vor der Frage aller Fragen: Eine unsichere Welt voller Leidenschaft (man kann immer in ein Tier verwandelt werden) oder bürgerliche Sicherheit. Außerhalb dieses Dreiecks steht die Liebe Obertos zu seinem Vater, die einzige Liebe, die wirklich rein und ohne Nebengedanken ist.

Es bleibt offen, ob die Inszenierung noch eine zweite Ebene enthält. Man kann dieses Eindringen der Business-Welt in eine indigen anmutende Welt ja auch als Anspielung auf eine koloniale Eroberung lesen.

Wie man auch immer die Bilder interpretiert, die Kostüme von Gianluca Falaschi sind bunt und prächtig. Die verzauberten Männer zeigen viel Haut und sind hinter stilisierten Tierköpfen versteckt. Die Choreographie von Anastasiya Bobrykova bringt sie gut zur Geltung. Alcinas Schwester Morgana ist eine pastellschillernde Meerjungfrau. Ihr über die Bühne gleitender Felsen ist ebenfalls ein Hinschauer. Das Bühnenbild von Flurin Borg Madsen ist klar und nicht überladen. Es wimmelt von hinreißenden Details, die große Showtreppe wird von Leuchtbananen erhellt. Die Drehbühne ermöglicht es, dass sich dann diese Welt unvermittelt ändern kann.

Und so kann ganz schnell die Realität der Bradamante auftauchen, eine graue Geschäftswelt, voller Schreibtische, nüchtern und langweilig und eher trist. Alcinas große Arie „Ah! Mio cor, schernito sei“ ist dabei dieser Wendepunkt. Alcina gesteht sich ein, dass sie liebt – das bricht den Zauber ihrer Welt. Sie wird nicht durch äußere Kräfte besiegt, sie besiegt sich selbst. Die Welt der freien Liebe weicht, wenn man nur noch eine Person lieben kann oder will. Zu Beginn des dritten Aktes nach der Pause öffnet sich der Vorhang, vor dem Alcina und Morgana stehen. Bühnenarbeiter schieben die Felsen nach hinten, eine Leuchtwand senkt sich, Neonröhren schweben herab, Bürotische werden hereingestellt. Inmitten dieser Nüchternheit bleibt bloß ein einziger, kleiner Felsen erhalten, an den sich Morgana und Alcina wie an einen Rettungsanker klammern.

Damit ist die Geschichte aber nicht beendet. Bradamante stellt in dieser nüchternen Neonwelt die Ordnung wieder her, als strenge Herrin. Die verzauberten Bewohner verlieren Teile ihrer bunten Kostüme und verwandeln sich in ein Heer aus grauen Angestellten. Wie gezähmt müssen sie in einer Art Tanz, streng choreographiert, auf ihren Schreibmaschinen hämmern. Eindrücklicher und gleichzeitig subtiler kann man den Vorgang einer kulturellen Unterwerfung nicht darstellen.

So erweist sich das ganze am Anfang so harmlos anmutende Zauberspektakel als komplexes Seelenbild und gleichzeitig vielleicht auch als ein Kommentar zur Kolonialgeschichte.

Aber muss man diese Verwandlung in eine graue Welt mitmachen? Zum Schluß probiert Alcina die Businesskleidung an, dann wirft sie sie angewidert auf den Boden. Sie zeigt Ruggiero ihre Gefühle, er weist sie zurück. Alcina selbst löst den Zauber, die Fabelgestalten werden wieder Menschen. Eine ausgelassene Bürofeier ist die Folge. Morgana betrinkt sich, mit Oronte bleibt sie vielleicht bei den Menschen. Alcina aber verlässt die Bühne nach hinten ins Dunkel. Die Freiheit lässt sich nicht domestizieren. Sehnsüchtig schaut ihr Ruggiero beim Schlußchor dann doch hinterher. Er ist nun wieder eingefangen in der Realität, die bunte, lebensfrohe Welt hat ihn verlassen. Ruggiero weiß, was er für immer verloren hat. Im ursprünglichen Libretto stirbt Alcina, so wie hier gelöst ist es für mich sehr viel bewegender und tiefer.

Bei Lydia Steier wird „Alcina“ eine Mischung aus Barock und großer Oper. Dafür hat sie großartige Stimmen zur Verfügung. Schön ist, dass jede Hauptperson durch Händel ihren eigenen großen Auftritte bekommen hat.

Hailey Clark als Alcina ist das unbestrittene musikalische Kraftzentrum. Sie wurde als indisponiert angekündigt, davon war nichts zu bemerken. Sie gestaltete ihre Rolle mit großer Stimme und unglaublicher Bühnenpräsenz, eine aztekische Hohepriesterin, eine große Diva im Stil von Marlene Dietrich, mit weißen Pelzumhang auf großer Showtreppe vor einem sternenglitzernden Nachthimmel. Ihre Arie „Ah! mio cor! schernito sei!“ steht am Wendepunkt der Oper. Ansatzlos wie aus dem Nichts schwoll die Stimme an, voll Traurigkeit, ein unfassbar bewegender Moment. Hailey Clark verwandelte Noten in pure Emotion.

Ruggiero wurde vom Countertenor Vince Yi als Gegenpol mit klarer Höhe gesungen, leuchtend hell und androgyn in der Färbung. Wunderbar beweglich klang die Stimme in allen Koloraturen. Seine Arie „Verdi prati, selve almene“ wurde zu einem Glanzstück des Barockgesangs – auch weil Vince Yi fähig war, das ganze Opernhaus zu erfüllen.

Der Kontrast zwischen der Stimme von Vince Yi und der Altstimme von Avery Amereau als Bradamante hätte kaum größer sein können, sehr reizvoll. Ihre Stimme ist zu samtener Weiche, aber auch zu durchsetzungsfähiger Dominanz fähig. Von den Stimmen her ist klar, wer in der Ehe die Hosen anhat. In ihrer Rachearie „Vorrei vendicarmi“ konnte sie zudem zeigen, zu welchen Koloraturen sie fähig ist – großartig.

Die Morgana von Mercedes Arcuri bildete zu diesem Triumvirat der Stimmen den passenden, silberhellen Gegenpol. Sie versteht es, Koloraturen wie glitzernde Perlenketten zu gestalten, präzise und leicht klingend, trotzdem mit Emotionen erfüllt. Zudem verfügt Mercedes Arcuri über eine gehörige Portion an komischen Talent, was wunderbar zu dieser Rolle passte.

Rupert Charlesworth als wilder Aztekenkrieger Oronte machte aus seinen Auftritten Bravourstücke an halsbrecherischem Gesang. Eifersucht und Liebesglut loderten aus seinen Koloraturen hervor. Melisso hat nicht so viele große Auftritte, aber Richard Walshe wusste seine Rolle zu nutzen. In „Pensa a chi geme d’amor piagata“ konnte er zeigen, was für eine tiefe und warme Stimme er hat. Davon möchte ich gern mehr hören.

Die Entdeckung des Abends war für mich Veronika Schäfer als Oberto. Sie studiert noch an der Musikhochschule und hatte in dieser Rolle ihr Debut an der Staatsoper. Zu darstellerischem Talent kommt eine ausdrucksstarke Stimme, die Großes erwarten lässt. Ihre Arie „Barbara! Io ben lo so“ war für mich einer der Höhepunkte.

In dieser Oper hat der Chor nicht viel zu tun, seine beiden Szenen zum Abschluss der Oper gestaltete er klangschön und präzise. Das durch Spezialinstrumente wie Theorben, Lauten und Blockflöten ergänzte Orchester begleitete die Stimmen auf der Bühne sensibel, aber gleichzeitig auch selbstbewusst. Unter Dirigent Rubén Dubrovsky konnte es sich als das zeigen, was es sein sollte – ein gleichwertiger Partner, nicht nur Begleitung.

In so einer Inszenierung, mit solchen Stimmen und so einem Orchester macht Barockmusik Spaß. Der Wechsel aus Rezitativen und Arien im A-B-A-Format wurde so für mich nie langweilig. Der begeisterte Schlussapplaus war verdient!

Die Einführung zur Oper wurde von einer Studentin der Leibniz-Universität gehalten, von Naima Scheffer. Kenntnisreich, inhaltsreich, ansprechend – es hat nicht nur mir sehr gut gefallen!

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