Vorstellung „Denis & Katya“ am 03.03.2022 – Reflexionen über eine digitale Tragödie mit Mitteln der Oper

Wir leben in Zeiten, in denen wir im Internet und den sozialen Medien nur einen Klick vom nächsten Grauen und der nächsten Sensation entfernt sind. Die Oper „Denis & Katya“ konfrontiert uns damit und spiegelt es zurück in die analoge Welt des Theaters, zu uns, den realen Zuschauern. Bewegend, spannend, emotional berührend, zeitgemäß, ein kleines Juwel!

Denis & Katya (Foto und COpyright: Clemens Heidrich)

Philip Venables (Jahrgang 1979) komponierte die Oper auf einen Text von Ted Huffman. Die Uraufführung fand 2019 in Philadelphia statt. Hier in Hannover ist es die Erstaufführung der deutschen Fassung. Der Begriff „Oper“ ist für mich aber nicht ganz passend, es ist eine Reflexion über ein wahres Geschehen mit musikalischen Mitteln. „Es ist wichtig, Geschichten von heute zu erzählen und nicht immer nur Shakespeare“, so sagte es Philip Venables in einem Bericht in der HAZ.

Es war im Jahr 2016 ein Medienereignis. Zwei verliebte russische Teenager, 15 Jahre alt (Denis, Katya) verschanzen sich nach einem Streit mit den Eltern in einer Waldhütte. Sie finden dort Alkohol und Waffen vor. Sie fangen an, mehr oder weniger lustige Videos darüber in den sozialen Medien zu posten, zuerst nur geteilt von Freunden, später dann von immer mehr Menschen. Angeheizt von dieser sensationsgierigen medialen Öffentlichkeit eskaliert langsam die Situation. Eltern und Polizei kommen dazu, es läuft aus dem Ruder, live in den sozialen Medien. Denis und Katya beginnen mit den Waffen zu schießen. Zum Schluss sind die Beiden tot, wahrscheinlich erschossen von der Polizei, aber das ist und bleibt ungeklärt.

Fragen stellen sich. Was zum Schluss in der Hütte geschah, das ist ungeklärt. Diese Ungewissheit weckt den Wunsch nach Aufklärung. Wer hat sich mitschuldig gemacht? Wie viel Verantwortung tragen die sozialen Medien, die Follower? Wie gehen wir als Menschen damit um, dass eine private Begebenheit auf diese Weise zu einer Live-Aktion in der Öffentlichkeit wird? Wie bilden wir uns ein Urteil über etwas, das so öffentlich war und über das wir doch nicht genug wissen? Das Interesse damals an den Videos im Netz war groß – wie voyeuristisch ist eine Oper über dieses Geschehen?

Philip Venables und Ted Huffman sind im Internet auf die Story aufmerksam geworden. Philip Venables erläuterte bei der „Kostprobe“ zur Oper, dass sie sich damals viele Geschichten angeschaut hatten. Dieses wahre Geschehen erweckte dann aber besonders ihr Interesse. Die Geschichte hat viele Ebenen, das macht sie interessant und emotional packend. Es gibt das Paar (es erinnert in der Tragik an Romeo und Julia), es gibt das Geschehen im Internet, es gibt die Reaktionen von Freunden und Beteiligten, es gibt unser Eingehen darauf. Eine Oper ist zudem ein weiterer Blick, wie voyeuristisch ist er? Wie voyeuristisch war der Entstehungsprozess? Diese unterschiedlichen Ebenen sind alle in die Partitur eingegangen.

Komponist, Textdichter und eine Dramaturgin waren in Russland, um den Hintergrund zu recherchieren, Interviews zu führen und die Sichtweisen von Betroffenen zu erfahren. Aus den Ergebnissen dieser Recherche wurden die Personen des Stückes geformt. Das Textmaterial stammt aus diesen Interviews, unter anderem geführt mit einem engen Freund von Denis und mit einer Journalistin, die damals in einer Internetzeitung über die Geschichte berichtet hatte. Weiteres Material hat seinen Ursprung in Zeitungsartikeln und in Medienberichten. Der voyeuristischen Ebene wird dadurch Rechnung getragen, dass zum Libretto auch Auszüge aus dem Chatverlauf zwischen Philip Venables und Ted Huffman gehören.

Wie setzt man das nun in eine Oper um? Denis und Katya stehen nicht auf der Bühne, es wird in der Oper über die Beiden gesprochen und über sie nachgedacht. Wir entfernen uns so einen Schritt vom Geschehen und nehmen eine neutrale, reflektierende Position ein. Auf der Bühne stehen (fiktive) Personen, die irgendwie beteiligt oder betroffen waren – die Journalistin, ein Freund von Denis, Lehrer, eine Nachbarin, ein Arzt, ein Mitschüler. Der Stoff wird strukturiert durch Ausschnitte aus den WhatsApp-Nachrichten zwischen Philip Venables und Ted Huffman darüber, wie sie ihn damals entdeckten. Wir als Publikum sehen damit das Geschehen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Wir sehen ganz verschiedene Sichtweisen, müssen uns ein Bild machen, müssen darüber nachdenken, wie wir mit so verschiedenen Informationen umgehen. Sechs Personen erzählen eine Geschichte, auf der Bühne sind dies ein Mezzosopran, ein Bariton und vier Celli. So ergibt sich ein ganz neues Bild dieser Tragödie, von dem wir aber auch nicht wissen, wie wahr es ist.

Aufgebaut ist dies wie eine Art Fernsehdokumentation, mit schnellen Schnitten auf jeweils eine andere Person. Ein Piepton kündigt diese Wechsel in der Perspektive und damit die Rollenwechsel an. Auch die musikalische Welt wandelt sich jeweils an diesen Schnittstellen. Berichte von Personen wechseln sich ab mit Berichten über Personen, Musik trifft auf gesprochenen Text, Gesang live trifft auf Elektronisches. Auch die musikalische Umsetzung der Oper kombiniert so Analoges und Digitales.

Eine eindeutige Zuordnung zwischen Sängerin (Weronika Rabek), Sänger(Darwun Prakash) und Person auf der Bühne gibt es dabei nicht. Jede Rolle hat aber ihr musikalisches Muster, das jeweils von Sängerin und Sänger (den beiden darstellenden Personen) umgesetzt wird. Der Rollenname wird jeweils auf der Videowand eingeblendet, aber das ist eigentlich nicht notwendig. Die Welten sind wirklich ganz individuell.

„Journalistin“ und „Freund“ stehen im Zentrum, es sind gesungene Solopartien, zu denen die andere darstellende Person gesprochene Texte ergänzt. „Nachbarin“ und „Teenager“ werden in russisch gesungen, die andere darstellende Person übersetzt live für das Publikum. Die Welt der Nachbarin ist eine Welt der Hysterie und der Aufgeregtheit. Weronika Rabek steht dabei meist wild gestikulierend auf einem Stuhl, sie singt überhitzte Koloraturen, die mich ein bisschen an die Königin der Nacht erinnerten. „Lehrer“ und „Arzt“ werden von Sängerin und Sänger zusammen übernommen, was eher Distanz zu diesen Personen erzeugt. Die Arztwelt ist musikalisch am extremsten, hypnotische, ätherische Musik, wie nicht von dieser Welt, getaucht in das Licht des Blaulichts. Alle diese Dopplungen koppeln die sachliche Informationsebene (gesprochener Text) von der emotionalen Ebene des Gesangs. Die Gesangspartien sind weitgehend im Stil eines klangreichen, tonalen Sprechgesangs gehalten.

Getragen wird dies von der Musik eines Quartetts aus vier Celli. Sie liefern Klangflächen, bedrohliche Klangmuster, zum Schluss aber auch bewegende Totenklagen. Dies wird konfrontiert und gemischt mit elektronischen Sounds des digitalen Zeitalters. Diese musikalische Welt aus Celli passt für mich sehr gut. Der Tonumfang entspricht in etwa dem der menschlichen Stimme, zudem ist das Instrument zu sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen fähig. Die Celli bilden hier den Grund der Welt, auf dem alles aufgebaut ist.

Einen Dirigenten gibt es nicht. Die sechs Akteure kreieren gemeinsam live das Stück, gesteuert über Signale über Kopfhörer.

Die Bühne ist auf das Wesentliche reduziert, nichts lenkt vom Stück ab. Sie ist schlicht, eine weiße Fläche, zwei Stuhlreihen links und rechts, hinten eine große Videowand. Die vier Celli sind an den Enden der Stuhlreihen platziert. Sängerin und Sänger sitzen zu Beginn dazwischen. In der Ecke der Bühne stehen vier Mikrophone, die das Geschehen aufnehmen und elektronisch verändern. Die Kostüme aller sechs Aufführenden sind unauffällig, normale Alltagsbekleidung in eher pastellenen Farbtönen. Die Mitte der Spielfläche ist zu Beginn leer, aber die Stühle werden im Verlauf der Aufführung fast choreographisch ins Geschehen mit einbezogen.

Gegliedert wird das Stück durch erzählte Passagen, in denen das Geschehen erzählt wird. So beginnt es auch. Nach diesen ersten Sätzen startet das Stück mit dem Tickern der ersten WhatsApp-Nachricht auf der Videowand, dann übernehmen die Personen das Geschehen und erzählen ihre Sicht auf die Geschichte. Die Musik ist modern, aber doch recht melodisch. Manchmal musste ich an die beängstigende Streichermusik aus Psycho denken. Die Musik erinnert aber auch an die atemlose Musik einer Reportage. Im weiteren Verlauf verändert sich der Ton aber immer mehr. Von der Stimmung eines Thrillers (das Geschehen wird erzählt) wandelt es sich zum Schluss in eine fast barock anmutende Musik (das Geschehen wird reflektiert). Der gesprochene Text wird weniger in dem Maße, wie die Emotionalität zunimmt.

Wenn in der Geschichte der Tod von Denis und Katya erreicht ist, setzt Schweigen ein auf der Bühne. Es ist eine schockierende, fast nicht erträgliche Stille. Im Publikum herrschte hier absolute Ruhe, selbst Atemzüge waren nicht zu hören. Dann gibt es doch noch ein bewegtes Bild auf der Videowand. Eine offenbar in einem Zug positionierte Kamera setzt sich in Bewegung. Wir fahren hinaus aus dem Bahnhof des Städtchens, verlassen den Ort des Geschehens, fahren hinaus in die russische Weite, in unendlich erscheinende, winterkahle Birkenwälder. Nur das Zuggeräusch ist zu hören. Dann setzt die Musik wieder ein. Das Stück endet mit Gesängen der Journalistin und des Freundes darüber, was diese Geschichte mit ihnen gemacht hat. Hier ist die Musik emotional, es ist eine Totenklage, ein Lamento. Keine anderen Instrumente eignen sich so gut dazu wie Celli, das ist Traurigkeit pur.

Weronika Rabek (Mezzosopran) und Darwin Prakash (Bariton) setzten dies alles zusammen mit den vier Musikern so intensiv um, dass ich vollkommen in die Geschichte eintauchte. Das war ganz hervorragend. Ich kann die Leistungen aller Darbietenden aber kaum voneinander trennen. Was hier vor uns auf der Bühne entstand, das war ein Gesamtkunstwert. Oper ist wirklich das falsche Wort.

Zum Schluss gab es viel Beifall von einem sichtlich ergriffenen Publikum, in dem junge Menschen eindeutig in der Überzahl waren.

„Denis & Katya“ ist ein bewegendes Stück Musiktheater. Es regt zum Nachdenken an über unseren Umgang mit sozialen Medien, aber auch zu unserem Umgang mit der (medialen) Wahrheit. Es ist ein Stoff, der junge und ältere Menschen „packen“ kann. Die Umsetzung zeigt, dass auch in der heutigen Zeit die Gattung „Oper“ ihre Wirkung hat. Die Musik ist (für ein modernes Stück) auch so, dass es gut zu hören ist.

Die knapp siebzig Minuten gingen so wie im Flug vorbei. Es war ein Erlebnis, das über das Übliche hinausging. Genau richtig also für Operngänger, die neugierig und an Themen der Gegenwart interessiert sind!

Achim Riehn

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