Vorstellung „Eugen Onegin“ am 26.05.2022 – einfühlsam, hinreißend, zum Niederknien

Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ ist lyrisch und intim, sie lässt uns teilhaben an Leid, vergeblicher Liebe und am Scheitern. Normal wäre es, hier zum Schluss einer Vorstellung lange zu klatschen und sich einige Tränen aus dem Auge zu reiben. Diesmal war es viel emotionaler: das Publikum stand, jubelte voller Begeisterung.

Szenenfoto aus Eugen Onegin (Foto und Copyright: Sandra Then)

Eine einfühlsame, kongeniale Inszenierung kam zusammen mit fast unfassbar gutem Gesang und einer hinreißenden musikalischen Darbietung. Das war ein Abend zum Niederknien, das war überirdisch. Ich bin eher nüchtern, aber hier ist Nüchternheit nicht am Platz.

Peter Tschaikowski komponierte die Oper „Eugen Onegin“ im Jahr 1878. Als Vorlage diente ihm der gleichnamige Roman von Alexander Puschkin, eines der bekanntesten Werke des Schriftstellers. Allerdings veränderte er den Schwerpunkt. Puschkin schildert die Geschichte von außen, in einem fast ironischen Ton. Tschaikowski dagegen wendet sich den Personen viel näher zu, taucht in ihr Seelenleben ein, arbeitet die Tragik viel deutlicher heraus. Tschaikowski identifiziert sich eindeutig mit der weiblichen Hauptfigur Tatjana und stellt ihr Liebesverlangen und ihre Entsagung in den Mittelpunkt.

Tschaikowski hat während der Komposition der Oper in Briefen geschrieben, dass er genug hätte von „äthiopischen Prinzessinen und Pharaonen“ und „verrückten Mördern“ in der Oper. Er verstände diese Menschen nicht. Und so ist seine Oper anders. Es sind Menschen aus dem realen Leben, mit ihren ganz realen Problemen und Geschichten. Es sind ganz normale Menschen, die man sich real vorstellen kann. Es geht hier nicht um Mord und Totschlag, es geht um das Leben und wie man damit umgeht.

Erster Akt. Tatjana und Olga leben mit ihrer Mutter Larina auf einem Gut draußen auf dem Land. Tatjana ist eher verträumt und zurückhaltend, Olga lebenslustig. Als Olgas Verlobter Lenski den zugereisten, weltmännischen Eugen Onegin mitbringt, verliebt sich Tatjana sofort in ihn. Sie gesteht ihm schließlich in einem Brief ihre Gefühle. Aber Onegin weist sie ab. Er tauge nicht zu Beziehungen, sie solle zudem ihre Gefühle besser beherrschen.

Zweiter Akt. Zum Fest zu Tatjanas Namenstag erscheint auch wieder Onegin. Er bekommt das Getuschel der Gäste mit und gibt Lenski dafür die Schuld. Um den Freund zu ärgern, tanzt und flirtet er mit Olga. Lenski ist tief verletzt. Er fordert Onegin zum Duell und stirbt dabei.

Dritter Akt. Eugen Onegin trifft nach Jahren Tatjana in St. Petersburg wieder. Sie ist nun die elegante Ehefrau des sehr viel älteren Fürsten Gremin. Onegin entdeckt seine Gefühle für sie. Auch sie liebt ihn noch, aber sie weist ihn ab. Sie bleibt bei ihrem Mann, es ist zu spät.

Tschaikowski stellt in jedem der Akte eine andere Kernperson in den Mittelpunkt. Tatjana erleidet die Liebe und die Zurückweisung, Lenski stirbt im Duell, Onegin kommt mit seinen Gefühlen zu spät. Tschaikowski hat so eigentlich drei kleine Opern in einer Oper versteckt, das war neuartig. Vielleicht deshalb hat er dem „Eugen Onegin“ auch den Untertitel „Lyrische Szenen“ gegeben. Es sind drei Geschichten über das Scheitern.

Wahre Zuneigung hat hier kaum eine Chance in dieser Welt der emotionalen Kälte, in einer Welt der gelangweilten Elite. Die Oper zeigt die Konsequenzen, die daraus folgen: Tod (Lenski) und Verzweiflung (Onegin). Sie zeigt aber auch einen Ausweg: Das Akzeptieren der Situation, das Akzeptieren des Verlusts, das Vertrauen in die eigene Stärke (Tatjana). So ist diese Oper tieftraurig, aber dennoch voller Romantik und mit einem Schimmer Hoffnung. Glück ist nicht möglich, aber Tschaikowski schenkt uns die Musik. Für einen kurzen, herrlichen, traumverlorenen Moment kommen Tatjana und Onegin sich nah, aber es ist eben einfach zu spät. Das ist wundervoll, berührend, das dringt tief in unser Herz ein. Jeder Charakter bekommt seine eigene Klangwelt, Tschaikowski lässt uns bei allen Personen mitfühlen, lässt uns durch seine Musik in das Herz aller hineinschauen. Die Oper ist ein Meisterwerk der Intimität.

Regisseurin Barbora Horáková gelingt es ganz wunderbar, all diese Facetten in ihrer Inszenierung abzubilden. Die großen Gefühle finden ihren Platz, aber auch die Fröhlichkeit des Geschehens, in der diese Gefühle eingewoben sind.

Bevor die Oper startet, wird Puschkin im Original zitiert. Seine Gedanken über das „Fieber der jungen Jahre“ stimmen auf die Geschichte ein. Die Inszenierung lenkt dann den Blick nach innen. Die Handlung spielt in einem großbürgerlichen Raum, der in den ersten zwei Akten der Saal des Landguts ist, im dritten Akt der Saal des Fürsten Gremin (Bühnenbild Susanne Gschwender, Licht Sascha Zauner). Durch Wechsel des Mobiliars und der Bilder und durch Veränderung der durch die Fenster sichtbaren Landschaft (Land, Großstadt) wird der Wechsel des Handlungsorts und des gesellschaftlichen Umfelds angezeigt. Immer stehen im Raum viele Stühle, ein Tisch oder Sessel, an denen sich fröhlich die Landbevölkerung und die Festgesellschaft versammelt und den Personen keine Ruhe gibt. So viel Bewegung auf der Bühne wie hier ist selten, alles ist voller kleiner, liebevoller Details, ganz wunderbar gezeichnet.

Barbora Horáková hat sich dabei von ihrer Kindheit in den Siebzigern in Prag inspirieren lassen, dem Aufwachsen in einem Mehrfamilienhaushalt, immer unter Beobachtung. Hier weiß jeder alles über jeden und jede, hier ist nichts geheim, hier gibt es keine Intimität. Die Kostüme von Eva Butzkies nehmen das auf, sie erinnern an die Siebziger, eher bürgerlich in den zwei ersten Akten, elegant und mondän im dritten Akt.

Das ist wunderbar stimmig – und stimmig ist auch die Zeichnung des Lebemanns Onegin. Er ist unangepasst, ein Abweichler, ein Freigeist. Er passt weder zu der fröhlichen Landbevölkerung noch zu der fast dekadenten Schickeria, er ist überall ein Fremdling. Er fühlt sich in beiden Welten unwohl und als Außenseiter, vielleicht führt das auch dazu, dass er Tatjana zurückweist.

Zu Tatjanas Briefszene senkt sich ein leuchtend grüner Vorhang aus Pflanzen hinter ihr herab, ein Bild des Lebens, ein Bild des emotionalen Aufblühens.

Die Pause ist nach dem ersten Bild des zweiten Aktes eingefügt, hier ist ja gewissermaßen auch der emotionale Bruch der Oper. Lenskis Tod führt dazu, dass Onegin für den Rest der Oper an seiner Mitschuld leidet. Das Duell wird in dieser Inszenierung anders gelöst als üblich, aber für mich durchaus im Sinne der Geschichte. Nach der Feier sitzen Lenski und Onegin halb betrunken zusammen, die Stimmung geht in Melancholie über. Lenski will sich mit einer Pistole erschießen, Onegin ihn abhalten, eine Auseinandersetzung folgt, ein Schuss löst sich, Lenski ist tot.

Konsequent findet der Wechsel des Bühnenbilds zum dritten Akt zur Ballszene auf offener Bühne statt. Wir sehen zu, wie die Zeit vergeht, sich die Welt ändert. Im dritten Akt sieht man, dass nun Welten zwischen Tatjana und Onegin liegen. Sie ist von umwerfender Eleganz, er fast heruntergekommen, leidet immer noch an Lenskis Tod. Tatjana hat sich weiterentwickelt, er nicht. Mit seinem Außenseitertum erreicht er sie nicht mehr, die Faszination ist gewichen (obwohl die Zuneigung noch da ist). Sie zieht den Schlussstrich, so klar und deutlich wie selten in einer Inszenierung dieser Oper. Tatjana allein bestimmt das Geschehen und das Ende der Geschichte. Das ist hinreißend und zu Herzen gehend.

Ein Detail hat mir hier im dritten Akt besonders gefallen. Mittelpunkt des Raums ist ein übergroßes Terrarium. Als sich Onegin seiner Gefühle für Tatjana bewusst wird, kriecht er hinein in diese Glaswelt, nimmt enthusiastisch die Pflanzen in die Hand. Es ist dasselbe Grün, das wir auch in Tatjanas Briefszene gesehen haben. Jetzt aber ist es kein gigantischer, grün leuchtender Teppich, jetzt sind es nur Reste, hinter Glas. Faszinierender kann man die Unterschiede der Gefühlswelt von Tatjana und Onegin kaum zeigen.

Auch musikalisch war es ein ganz ganz großer Abend. Wir hörten Musik, von Leben durchglüht. Wir hörten Oper so gut dargebracht wie ganz selten. Das Folgende ist voller Superlative, aber die ließen sich bei der Bewertung dieses Abends nicht vermeiden.

James Hendry setzte voll auf Leben, auf Hitze, auf Drama, nichts da von Schwermut. Die Musik loderte, sie streichelte aber auch in den zarten Passagen. Das Niedersächsische Staatsorchester spielte mit hinreißender Präzision und doch voller Emotionen. Den Sängerinnen und Sängern wurde so die Musik wie ein prachtvoller Teppich zu Füßen gelegt. Und was hier an Gesangsleistungen geboten wurde, das war eine Sternstunde!

Barno Ismatullaeva ist eine atemberaubende Tatjana. Soviel Glanz, Weichheit und Leidenschaft sind selten! Ich konnte dieser Stimme nur atemlos zuhören, so wie der Rest des Publikums auch. Die Brief-Szene geriet zum Niederknien gut und wurde zu Recht mit starkem Szenenapplaus belohnt. Besser habe ich diese Rolle bisher kaum gehört.

James Newby konnte in der Rolle des Eugen Onegin alle seine Qualitäten ausspielen. Ohne jede Anstrengung klang das, jeder Spitzenton saß. Dazu kam noch die unglaubliche szenische Präsenz, herausragend.

Pavel Valuzhin versah den Lenski mit so schönen und feinen Tönen, dass es das Herz rührte. Sein Lenski ist ein junger, überschwänglicher Mann voller Verletzlichkeit. Auch hier konnte ich nur hingerissen zuhören.

Ruzana Grigorian als Olga, Monika Walerowicz als Larina und Vera Egorova als Filipjewna bewiesen mit jedem Ton ihre Klasse. Sie machten aus diesen drei kleineren Rollen bezwingende, lebendige Rollenportraits, fein, präzise und klangschön gestaltet. Besser geht es kaum.

Shavleg Armasi als Gremin stand dem in nichts nach. Seine Figur hat eine wunderschöne Arie und sonst nur wenige Textzeilen. Aber hier war das so schön, dass ich es nur bewundern kann und dass es in Erinnerung bleibt.

Wie man aus der kleinen Rolle des Triquet ein herrliches, komödiantisches Glanzstück machen kann, das zeigte Robert Künzli. Das war sowohl gesanglich als auch darstellerisch große Kunst. Auch Gagik Vardanyan zeigte in seinen kleinen Rollen als Saretzki und als Hauptmann, was für ein guter Sänger er ist. Ebenso gut war Voadimir Kasatschuk als Vorsänger.

Vergessen werden darf auf keinen Fall der großartige und ständig präsente Chor (Leitung: Lorenzo da Rio). Sängerisch und schauspielerisch erstklassig, voller Spielfreude, großartig!

Alles fügte sich hier zu einem wirklich großen Abend zusammen. Der Beifall war laut und enthusiastisch wie selten. Gesangsleistungen von Weltklasse kamen mit grandios dargebotener Musik zusammen in einer Inszenierung, die so nah und präzise an der Geschichte ist, dass ich nur den Hut ziehen kann. Alles passte ineinander für ein Ereignis, dass ich in Erinnerung behalten werden. Bravo, bravo, bravo – für alle!

Achim Riehn

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Besprechung Vorstellungsbesuch veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.