Vorstellung „Il Barbiere di Siviglia“ am 22.01.2020 (Staatsoper Hannover)

Ein Triumph die Premiere, Ovationen und langer, lauter Beifall – offenbar hat diese doch etwas ungewöhnliche Inszenierung den Nerv des Publikums getroffen. Mein Besuch in der zweiten Vorstellung am 22. Januar erfüllte voll und ganz die Erwartungen. Dieser Barbier ist ein absolutes Muss, ein komplex-intimes Wunder, darstellerisch und musikalisch. In Hannover spielt die Musik, daran führt kein Weg mehr vorbei.

Der Inhalt dieser Oper ist schnell erzählt. Bartolo, ein ältlicher, gut situierter Herr, will am kommenden Tag sein Mündel Rosina heiraten. Interessiert ist er eigentlich an ihrem großen Vermögen. Graf Almaviva aber, ihr adliger, junger Verehrer, kommt ihm nach vielen Verkleidungen und Wirrungen zuvor. Er schnappt ihm Rosina vor der Nase weg und heiratet sie noch am gleichen Tag, im Haus des Vormunds, vor dessen Nase. Der pfiffige Figaro leistet tatkräftige Unterstützung.

Die Oper von Rossini wurde 1816 uraufgeführt, die Wirrungen der Napoleon-Zeit waren gerade vorbei, die Welt versuchte sich zu ordnen. Die Sehnsucht nach Harmonie mischt sich mit dem Wunsch, jetzt endlich einmal zum Zug zu kommen. Rossini hält der damaligen Gesellschaft einen Spiegel vor. Alle sind mit Volldampf und ununterbrochen damit beschäftigt, ihre Ziele zu erreichen. Menschen kommen zusammen, gehen auseinander, spielen ihre Spielchen miteinander, sind auf ihre Vorteile bedacht. Jeder ist unablässig in Intrigen verstrickt – und der Figaro als Zentrum des Wirbels mittendrin.

Der Regisseurin Nicola Hümpel stellt in ihrer Inszenierung die einzelnen Menschen der Geschichte in die Mitte. Rossini gibt jedem eine individuelle Persönlichkeit (und eigene Ziele) und dies wird sichtbar. Nicola Hümpel kommt nicht aus dem Dunstkreis der Oper, 1998 gründete sie mit ihrem Mann Oliver Proske (der hier für das Bühnenbild verantwortlich ist) das freie Ensemble Nico and the Navigators. Mit seinen Produktionen hat das Ensemble bei vielen europäischen Festivals Triumphe gefeiert, beheimatet ist es in Berlin im Veranstaltungszentrum Radialsystem.

Die Sicht von Nicola Hümpel auf die Oper ist frisch, modern und unkonventionell. Der Einsatz von Videotechnik dient dazu, dass Innenleben der Akteure dem Publikum ganz nah zu bringen. Kameras werden zu Brenngläsern, zu Mikroskopen in die Seele hinein. Videotechnik dient nicht einfach nur zur Bebilderung (ansonsten oft genutzt, oft abgenutzt), sie erfüllt eine konkrete Aufgabe. Sie offenbart hier, dass selbst ein Zucken des Mundwinkels die gerade gezeigte Geschichte verändern kann.

Auf den Einsatz von Kamerapersonal auf der Bühne wird verzichtet. Zwei an den Seitenbühne fest installierte Kameras dienen dazu, die Personen auf der Bühne in den Blick zu nehmen. Das Bild erscheint dann auf einer großen Wand im Hintergrund. Laufend wird also durch die Aktionen auf der Bühne ein Live-Film erzeugt, der das Geschehen spiegelt, bricht und kommentiert. Die Videowand wird links und rechts durch Wände begrenzt, die Hauswände sein können, die Türen haben, aus denen sich Balkone herausschieben. Dieser Teil der Bühne dreht sich, ergibt neue Blickwinkel – aber der Film im Hintergrund geht weiter. Die Videowand ist die einzige Konstante im Geschehen. Der Bühnenbildner Oliver Proske bezeichnete diesen variablen Raum als „Komödienmechanik“, das trifft es sehr genau.

Es gibt drei Ebenen in der Inszenierung, die miteinander wechselwirken, das ist am Anfang etwas ungewohnt. Auf der Bühne wird in Richtung der Kameras agiert, fast nie wird das Publikum in den Blick genommen. Die zweite Ebene bilden die oft ganz intimen Bilder auf der Videowand, die psychologischen Feinzeichnungen, die das Geschehen abbilden und kommentieren. Hier blicken die Personen das Publikum direkt an. Die dritte Ebene sind dann die Übertitel. All das muss man erst einmal im Kopf zusammenbekommen. Es funktioniert aber recht schnell und dann erstaunlich gut. Ein Tipp: Folgen sie den Bildern auf der Wand!

Im Laufe des Abends gewinnt dieses Video-Kammerspiel immer mehr an Tiefe. Vielleicht ist es aber einfach so, dass man immer mehr an Tiefe wahrnimmt, weil man immer stärker in den Sog dieser drei Ebenen gerät. Der Film kommentiert das Geschehen. Er bildet ab, was Personen denken und planen. Er kommentiert Beziehungen zwischen den Personen – z.B. eine ganz kleine, wütende Rosina auf der Bühne und ein übermächtig großer Bartolo auf der Videowand hinter ihr. Der Film zeigt das Alberne, das Komische und auch das Böse ganz nah. Er zeigt aber auch das, was der Zuschauer sonst nicht sieht. Eine Sängerin holt tief Luft vor ihrer Arie, ein Sänger zeigt die Emotionen beim Singen, man sieht die Freude nach einem gelungenen Auftritt, wenn der Beifall aufbraust. Das ist dann sogar noch eine vierte Ebene – der Interpret hinter der Figur. Da ja der Live-Film eine große Rolle spielt, kann ich es endlich einmal sagen: Das ist ganz großes Kino! Der Zuschauer wird in die Geschichte hineingesogen und überlässt sich gern dem gerissenen Drahtzieher Figaro, der dafür sorgt, dass alle zur richtigen Zeit am richtigen Platz für das Spiel sind. Und der natürlich auch weiß, wie er selbst immer im Bild bleibt.

Es gibt hier im Ensemble so viele gute Sänger, dass Hümpel mit gleich zwei gleichwertigen Besetzungen arbeiten konnte. In der besuchten Aufführung hatte die Parallelbesetzung (von Zweitbesetzung zu reden wäre despektierlich!) ihren ersten Auftritt. Geboten wurden dem Zuschauer grandiose Leistungen. Die große Qualität des Ensembles ist nicht nur zu hören, sondern in den Videos auch auch sehen. Da man so nah ist, ist großes schauspielerisches Vermögen gefordert. Mit starrem, verkrampftem Agieren ist es hier nicht getan – aber alle sind wirklich gute Darsteller UND Sänger.

Sonnyboy Dladla brilliert als ein vor Liebesbegeisterung und Lebenslust glühender Graf Almaviva. Sein Tenor ist schlank, klar, leuchtend und präzise – ideal für diese Partie.

Die Rosina von Anna-Doris Capitelli ist eine junge Frau, die weiß was sie will. Es ist in ihrem Gesicht zu sehen, dass sie immer bekommen wird, was sie haben will. Hier singt kein Opfer. Die warme, koloraturensichere Stimme strahlt voll Selbstsicherheit in jeder Sekunde – ein wunderbares Rollenportrait.

German Olvera spielt den Figaro so herrlich selbstverliebt, dass man keine Sekunde versäumen möchte. Er hat eine Präsenz auf der Bühne, die hinreißend ist. Die Stimme sprüht vor Schalk und Verführungskunst. Es ist ein Figaro, wie man ihn sich immer gewünscht hat. Im Ständchen für Rosina begleitet er den Grafen live auf der Bühne an der Gitarre, göttlich!

Tiziano Bracci macht aus dem Doktor Bartolo einen durchtriebenen, sich selbst überschätzenden Intriganten, einen Griesgram, der aber immer irgendwie an sich zweifelt. Jede dieser in ihm kämpfenden Regungen wird in seinem Gesicht und in seiner Stimme sichtbar und hörbar.

Auch die etwas kleineren Rollen sind großartig besetzt. Pavel Chervinsky macht mit jedem Ton deutlich, dass Don Basilio ein mephistophelischer, käuflicher Schleimer ist, der Spaß daran hat, alles zu hintergehen, was in seine Reichweite kommt. Carmen Fuggiss mit ihrem reinen Koloratursopran zeigt hinter Berta die kokette, aber doch an sich und dem Leben zweifelnde Frau. In ihrer Arie konnte ich die Zerbinetta aus „Ariadne aus Naxos“ hören.

Der Fiorillo von Darwin Prakash hat Feuer im Gesicht und in der Stimme, Gagik Vardanyan als Offizier der Wache verwandelt seinen kleinen Auftritt in ein Glanzlicht der Komik.

Der Chor gestaltet seine wenigen Auftritte ebenfalls großartig. Auch hier sind geborene Schauspieler auf der Bühne. Ihr Auftritt als Stadtwache am Ende des ersten Aktes erwies sich als vom Publikum bejubelter Höhepunkt – aber hier verrate ich nichts.

Eduardo Strausser und das Niedersächsische Staatsorchester begleiteten das Geschehen auf der Bühne sensibel, präzise und berauschend. Die Lebenslust der Musik sprühte oft geradezu auf. Die Rezitative wurden von Francesco Greco am Hammerklavier mit viel Witz begleitet (Bartolo bekam angemessen schräge Töne).

Das Bühnenbild von Oliver Proske bildete für das turbulente Geschehen den perfekten Hintergrund. Die Videowand war so geschickt integriert, dass sie überhaupt nicht mehr als Fremdkörper empfunden wurde (wie es oft sonst bei Videos in Interaktion mit dem Bühnengeschehen ist). Viele kleine Details bezauberten mich, herausfahrende Balkone, eine weiße Sitzbank, die sich in der Musiklehrerszene zum Klavier umfunktionieren ließ.

Die Kostüme von Esther Bialas sind eher neuzeitlich und wunderbar passend auf das Geschehen abgestimmt. Die griesgrämige Welt des Bartolo spiegelt sich in den trostlos-beigefarbenen Kostümen, in denen auch Rosina und Berta eingefangen sind. Don Basilio erinnert an eine Kreuzung aus Mephisto und Dracula. Graf Almaviva bekommt seine bunten und prächtigen Farben, angemessen für einen Popstar-Grafen. Und es ist nicht zu übersehen, dass Figaro in einer bunten, schillernden, violetten Welt lebt – das ist wohl nicht Sevilla, das ist eher Hipster-Berlin.

Schon nach den einzelnen Arien war der Beifall des fast ausverkauften Hauses groß. Zum Schluss steigerte sich das zu einem Begeisterungssturm wie nach einem Popkonzert. Jubelndes, stehendes, klatschendes, kreischendes Publikum – ein Triumph!

Hans Joachim Riehn

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