Mein Plan war, zu jeder Neuinszenierung und zu jedem Konzert einen Bericht zu schreiben. Für die jetzt zwanzig Jahre alte Inszenierung von „La Boheme“ mache ich eine Ausnahme. Hier präsentieren sich die „italienischen Stimmen“ des neuen Ensembles in so beeindruckender Weise, dass darüber berichtet werden muss. Die intensive, zu Herzen gehende Musik, die an der Geschichte orientierte, poetische Inszenierung von Chris Alexander und die wunderbaren Stimmen vereinen sich zu einem Dreiklang der Verzauberung.
Der erste Akt spielt am Weihnachtsabend im Quartier Latin in Paris. Das Bühnenbild von Kathrin Kegler überzeugt durch seine Schlichtheit, einige Requisiten wie ein Sessel auf einer Fläche markieren das Zimmer, eine weißliche Schräge im Hintergrund ist die Schneelandschaft auf den Dächern.
Hier führen vier Studenten ein ärmliches, aber fröhliches Leben. Der Schriftsteller Rodolfo (Long Long), der Maler Marcello (Germán Olvera), der Musiker Schaunard (James Newby) und der Philosoph Colline (Richard Walshe) sitzen frierend und hungrig in ihrer Mansarde. Puccini gestaltet diese Szene fast rezitativisch und gibt den Stimmen so Gelegenheit, sich vorzustellen. Alle Darsteller zeigten sich in diesem Ensemble sehr ausdrucksstark. Besonders gefiel mir, dass es ein Ensemble von durchgängig jungen Darstellern mit jung klingenden Stimmen war. Es wirkt merkwürdig, wenn die Studentendarsteller zu alt sind.
Jordan de Souza, Kapellmeister der Komischen Oper Berlin, leitete sicher und präzise durch das Stück. Mir erschien aber im ersten Akt die Lautstärke etwas hoch. Teilweise überdeckte das doch die Stimmen. Die Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters gestalteten Puccinis Musik aber tadellos und arbeiteten insbesondere die Kontraste zwischen den fröhlichen und den traurigen Stellen bewegend heraus.
Den Vermieter Benoît (Tiziano Bracci) können die Freunde abwimmeln. Freudig beschließen sie, ins Café Momus im Quartier Latin zu gehen, um das Weihnachtsfest zu feiern. Rodolfo bleibt zurück. Es klopft, es ist seine Nachbarin Mimì (Barno Ismatullaeva), eine junge Näherin, der die Kerze ausgegangen ist. Die Musik wechselt ins Schwelgerische.
Rodolfo stellt sich vor und erzählt von sich (Arie „Che gelida manina“). Long Long hat eine frei strömende, leuchtende Stimme mit mühelosen Höhen. Nichts klingt beengt oder angestrengt. Leider musste auch er hier ein bißchen gegen das Orchester ansingen. Er ist ein Sänger der feinen Darstellung, kein alles überschreiender Kraftprotz-Tenor.
Mimi stellt sich ebenfalls vor und erzählt von ihren Träumen (Arie „Sì. Mi chiamano Mimì“). Barno Ismatullaeva hat dafür eine ideale Stimme. Intensiv strahlend ist sie, für die Klangfärbung habe ich die Assoziation „rotgolden“ oder „rubinrot“. Es ist lodernde Glut und Lebenssehnsucht, die in dieser zierlichen Person steckt. Der Blitz der Liebe schlägt ein und die Beiden gestehen sich ihre Liebe (Duett „O soave fanciulla“). Zwei wunderbare Stimmen finden zueinander.
Zu Beginn des zweiten Aktes kommen Mimi und Rodolfo gemeinsam ins Cafe Momus, wo die anderen bereits fröhlich feiern. Buntes Treiben herrscht auf dem Platz vor dem Café. In diesem weihnachtlichen Trubel konnten Chor und Kinderchor ihre Qualitäten ausspielen, präzise auf den Punkt, farbenreich und lebendig im Klang. Die Kostüme von Marie-Therese Cramer bezauberten hier mit viel Pariser Flair.
Musetta (Hailey Clark) kommt dazu, die ehemalige Geliebte von Marcello. Sie wird von ihrem reichen Liebhaber Alcindoro (Patrick Jones) begleitet. Musetta ist aber viel stärker an Marcello interessiert und zieht alle Register (Arie „Quando m’en vò“). Hailey Clark ist ein ganz anderer Typ von Sopran, heller in der Tönung, eher weißgolden, es ist immer so etwas wie Schalk in der Stimme. Sie gestaltete die Szene kapriziös und voller Verlockung. Es ist kein Wunder, dass Marcello nicht widerstehen kann und sie wieder zusammenkommen. Alle Stimmen vereinen sich zu einem mitreißenden Ensemble. Die Freunde verschwinden und Alcindoro muss die Zeche bezahlen.
Der dritte Akt spielt draußen vor der Stadt an einem Gasthaus an einer Zollschranke. Es ist kalt, der Schnee fällt. Die Kälte ist fast bis in den Zuschauerraum zu spüren. Mimì fragt Marcello wegen Rodolfos Eifersucht um Rat. Als Rodolfo erscheint, versteckt sich Mimì. Aus dem Gespräch der beiden Männer erfährt sie dann die Beweggründe Rodolfos. Er liebt Mimì nach wie vor, da diese aber sehr krank sei, kann er ihr wegen seiner Armut nicht helfen und will sie deshalb verlassen. Mimì verrät sich durch ein Husten und beide schließen sich in die Arme.
Das Orchester spielte hier leiser als im ersten Akt, was den Stimmen mehr Raum gab. Germán Olvera als Marcello konnte hier seine Qualitäten ausspielen. Sein Bariton ist warm, männlich und klangschön.
Mimi und Rodolfo beschließen ihre Trennung. Weil aber ihre Liebe so groß ist, beschließen sie, sich erst im Frühling zu trennen. Der Zweiklang der Stimmen war hier fast noch intensiver als im ersten Akt. Es gelang beiden Sängern zudem sehr gut, die Verzweiflung und Todesahnung bei aller Süße des Gesangs durchscheinen zu lassen. Es rührte das Herz. Gleichzeitig haben Musetta und Marcello einen heftigen Streit und auch sie nehmen voneinander Abschied. Das Quartett „Addio dolce svegliare alla mattina“ dieser vier Stimmen war für mich einer der Höhepunkte des Abends.
Der vierte Akt spielt wieder im Zimmer des ersten Aktes und wieder beginnt er mit einer fast komischen Szene der vier Freunde. Hier konnte auch James Newby als Schaunard seine schöne, maskuline Stimme und sein komisches Talent präsentieren.
Da bringt Musette die sterbenskranke Mimi zu ihnen. Die Musik wechselt abrupt ihren Charakter. Um Medizin zu besorgen, beschliessen die Freunde zu helfen. Musetta will ihren Schmuck zu veräußern, Colline seinen geliebten Mantel. Wehmütig verabschiedet er sich von ihm (Arie „Vecchia zimarra, senti“). Richard Walshe als Colline erschien mir im ersten Akt noch ein bisschen schüchtern, hier klingt sein Bass samten, jugendlich und verletzlich, es passt ganz wunderbar. Hailey Clark überzeugte auch hier, ihre Stimme hatte das Kapriziöse verloren, war weicher, emotionaler geworden.
Nachdem die Freunde gegangen sind, erinnern sich Rodolfo und Mimì an ihre ersten Begegnung. Mimì versichert Rodolfo noch einmal ihre Liebe (Arie „Sono andati? Fingevo di dormire“), was dieser erwidert. Es ist kaum möglich, mehr Sehnsucht und Abschied in die Stimmen zu legen als das Barno Ismatullaeva und Long Long hier taten. Schließlich kehren die Freunde zurück. Mimì kann sich noch kurz über den mitgebrachten Muff freuen, ehe sie stirbt. Rodolfo sieht dies als Letzter und bricht zusammen. Und wer da nicht sein Taschentuch herausholen muss, der ist wirklich abgebrüht!
Es war ein bewegender Abend mit hervorragenden schauspielerischen und gesanglichen Leistungen. Auch in den kleineren Rollen (Benoît: Tiziano Bracci, Parpignol: Jaean Koo, Alcindoro: Patrick Jones, Pflaumenverkäufer: Thomas Kubitza, Zöllner: Valentin Kostov, Sergeant: Darwin Prakash) wussten alle zu überzeugen. Chor, Kinderchor und Orchester agierten präzise und spielfreudig.
Ich kann einen Besuch dieser Inszenierung nur empfehlen. Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, aber immer noch schön – und gehört irgendwie zum hannoverschen Weihnachten. Ich würde mich freuen, wenn das als Tradition so bleibt.
Hans-Joachim Riehn