Diese „Rusalka“ war ein Opernabend der Extraklasse! Die Regisseurin Tatjana Gürbaca hat mit ihrer Inszenierung eine bewegende und poetische Interpretation geschaffen, die uns im Publikum ganz tief hineinzieht in diese Geschichte einer an der Welt scheiternden Liebe und einer Menschwerdung. Das Hannover-Debüt der Regisseurin ist ein Triumph, inszenatorisch, aber auch musikalisch. Sängerinnen, Sänger, Chor, Orchester und Dirigent lieferten eine beeindruckende Leistung auf höchstem Niveau ab. Das war eine Aufführung, die am Ende zu Recht mit stürmischem Beifall und Standing Ovations gefeiert wurde.
Die Regisseurin ist bekannt für präzise, psychologisch ausgefeilte Arbeiten und wird dafür an großen Opernhäusern in Europa gefeiert. Die Produktion sollte ursprünglich an der English National Opera in London und im Theater von Luxemburg gezeigt werden, das konnte aber aufgrund der Pandemie nicht stattfinden. Die Aufführungen dort konnten auch nicht nachgeholt werden. Ein Glück für Hannover, Intendantin Laura Berman griff zu und ermöglichte die Umsetzung der Arbeit hier an der Staatsoper.
Rusalka ist die bekannteste Oper des Komponisten Antonín Dvořák. Sie gilt als eine der größten tschechischen Opern und beeindruckt durch ihre sensible Gestaltung, ihre kraftvolle Dramatik und die dunkle Romantik. Die Oper wurde 1901 uraufgeführt und basiert auf slawischen Volksmythen über Wassergeister. Der Stoff ähnelt der Erzählung Undine von Friedrich de la Motte Fouqué sowie anderen Märchen über diese Wesen. Die Geschichte handelt von einer Rusalka, einem Wesen der Natur, das ein individuelles Leben führen möchte. Ein Prinz verliebt sich in Rusalka, sie in ihn, aber ihre Liebe scheitert. Rusalken (oder Undinen) sind Naturwesen und stehen für das, wonach wir uns im Herzen sehnen. Sie beinhalten das Versprechen eines paradiesischen Zustands ohne Zwänge. Der Verrat des Prinzen aber versperrt den Weg ins Paradies.
Der Inhalt der dreiaktigen Oper ist schnell erzählt. Die Nixe Rusalka hat sich in einen menschlichen Prinzen verliebt. Um zu ihm zu gelangen, will sie eine Seele erhalten. Der väterliche Wassermann warnt sie eindringlich, aber sie ist bereit, den dafür notwendigen hohen Preis zu zahlen. Die Hexe Jezibaba verwandelt sie in ein menschliches Wesen, indem sie ihr zwei Beine gibt, aber ihre Stimme nimmt. Der Prinz, der in der Nähe des Sees auf der Jagd nach einem weißen Reh ist, verliebt sich in Rusalka und nimmt sie mit auf sein Schloss.
Im zweiten Akt löst die Stummheit und Eigentümlichkeit Rusalkas Irritationen bei den Hochzeitsgästen aus. Eine fremde Fürstin verführt den Prinzen, was Rusalka das Herz bricht. Der Wassermann erscheint und nimmt Rusalka zurück in ihre Wasserwelt. Der Prinz erkennt erschrocken, dass seine ursprünglich Angebetete kein menschliches Wesen ist.
Im dritten Akt kann Rusalka nach ihrer Verzauberung nicht mehr Wasserwesen sein und muss als todbringendes Irrlicht umherwandern. Der Prinz erscheint reumütig am See und bittet Rusalka um Vergebung. Rusalka warnt ihn, dass ihr Kuss ihn töten wird, aber der Prinz bittet dennoch darum. Rusalka küsst den Prinzen, der daraufhin stirbt. Rusalka verschwindet im Wald.
Es geht hier aber um mehr als ein Märchen. Hinter dem Märchen geht es um unsere Gesellschaft, um unsere Hoffnungen und Träume. Rusalka ist eine Vertreterin der ungebändigten Natur, die nach Neuem sucht und eine eigene Identität haben möchte. Ihr ist ihre Welt zu eng, sie möchte hinaus. Die Oper erzählt eine Geschichte von Transformation, Sehnsucht und Scheitern, die sowohl die Personen als auch die Gesellschaft insgesamt betrifft. Die Oper ist die Geschichte einer Suche nach Neuem, einer Suche nach Erkenntnis.
Dazu ist die Oper eine wunderbar tragische Liebesgeschichte „Rusalka“ ist eine lyrische Erzählung darüber, wie ein fühlendes Wesen an einer kalten Welt mit fremden Regeln scheitert. Rusalka und der Prinz fühlen sich in ihrem Leben nicht richtig zuhause. Beide Welten haben Sehnsucht nacheinander, weil auf beiden Seiten offenbar etwas fehlt. Die Oper zeigt die zerstörerische Kraft der Liebe, die Welten sprengen und ins Nichts stürzen kann.
Die Musik von Dvořák dazu ist von vielfältigen Einflüssen geprägt und verbindet Elemente der slawisch-böhmischen Volksmusik mit Wagner’schen Leitmotiven. Die Musik spiegelt die Charaktere der Figuren außerordentlich fein wieder und unterstützt die psychologische Tiefe des Geschichte. Dvořáks Musik ist sowohl kraftvoll als auch sensibel und hört ganz genau auf das, was in der Geschichte passiert. Hört man diese Musik, dann fragt man sich, warum nicht mehr Opern dieses Komponisten auf unseren Spielplänen stehen.
Tatjana Gürbaca setzt diese Geschichte um Liebe, Enttäuschung und Sinnsuche bezwingend klar und nachvollziehbar um. Sie versteht es dabei, nicht nur die Geschichte der Personen zu erzählen, sie versteht es auch, dies in einen ganzen Kosmos an Themen einzubetten. Es geht um Individuen, es geht um die Gesellschaft, es geht um Wünsche, Sehnsüchte, Wandlungen, Entwicklungen. Dieser Inszenierung gelingt es, alle diese Themen in einem großen und poetischen Bild zusammenzufassen.
Rusalka ist die Hauptperson und die Inszenierung verfolgt, wie sie sich wandelt, sich entwickelt. Es beginnt in der Wasserwelt, einer engen Welt, nach oben durch eine Decke begrenzt, die Wasseroberfläche. Schwarze Vorhänge engen diesen Raum nach allen Seiten ein. Rusalka will hinaus aus dieser Welt. Wir sehen schon während der Ouvertüre in einem ikonischen Bild, wie sie sich nach oben streckt, der Decke entgegen. Im Laufe des Abends verfolgen wir, wie sie es schafft, aus ihrer Welt hinauszukommen.
Der Übergang zur nächsten Welt aber ist mit Opfern verbunden. Tatjana Gürbaca findet dafür ein drastisches Bild. Während des Zaubers der Hexe Jezibaba wird ein Spiegel zerbrochen, die Scherben werden in die Schuhe geschüttet. Der Preis für die Menschwerdung ist – neben dem Verlust der Sprache – der ständige Schmerz beim Gehen in diesen glaserfüllten, blutigen Schuhen. Und später wird einem klar, dass die Hexe wohl dieses Schicksal früher ebenfalls erlitten hat. Auch sie hat Scherben in den Schuhen. Geschichte wiederholt sich.
Nach dieser Menschwerdung verwandelt sich die Szenerie in die Menschenwelt. Die Wasseroberfläche kippt nach oben, ist auf einmal so etwas wie ein Dach mit Fenstern in den Himmel. Die großen Flusskiesel verwandeln sich in so etwas wie Sitzgelegenheiten. Die schwarzen Vorhänge weichen zurück, bilden nun den dunklen Rand des Waldes und später den Raum im Schloss. Statt der frechen, neckischen Flussnymphen sehen wir nun die blasierte Festgesellschaft. Die neue Welt ist wie die alte Welt, nur anders eingefärbt, mit irgendwie anderen Personen, fremd und nicht durchschaubar. Der Wassermann sitzt stumm in einem Sessel in der Ecke, wie eine mahnende Erinnerung. Rusalka ist zwischen den Welten allein.
Die Festgesellschaft begegnet dem Naturwesen Rusalka mit Herablassung und Arroganz. Diese Gesellschaft kann keine Andersartigkeit akzeptieren. Wir sehen in eine Welt voller Betrug, Verrat, aber auch voller Suche, Sehnsucht und Liebe. „Wir“ sind die blasierte Welt am Hofe des Prinzen, uns wird ein Spiegel vorgehalten. Wir in unserer Welt werden mit der Welt der Natur konfrontiert und müssen feststellen, dass wir sie nicht verstehen. Zwei Welten prallen aufeinander und die Personen beider Welten scheitern.
Ganz großartig ist das auch in den Kostümen umgesetzt. Die Festgesellschaft ist in prächtigste Roben und Anzüge gehüllt, die Frauen glitzern förmlich vor Schmuck. Hier sehen wir die einzigen bunten Farben in einer sonst nur auf schwarzweiße Abtönungen setzende Inszenierung. Im starken Gegensatz dazu hat Kostümbildnerin Barbara Drosihn Rusalka in ein blassrosiges Alltagskleid gesteckt. Rusalka bleibt bei ihrer Farbe blassrosa, egal in welcher Umgebung.
Die Katastrophe ist unabwendbar, die Beziehung zum Prinzen scheitert. Rusalka hat ihre Sprache zurück, aber muss nun – eine Nebenwirkung des Zaubers – für immer zwischen den Welten wandeln. Der Prinz verzehrt sich nach ihr und empfängt auf seinen Wunsch hin den Todeskuss. Auch der Wassermann liegt wie tot am Boden. Wer sich nicht weiterentwickelt, der muss sterben. Aber für Rusalka geht es weiter, für sie hat die Inszenierung eine Perspektive. Wie zu Beginn der Oper streckt sich sich nach oben, der nächsten Welt entgegen, der Welt hinter den Fenstern, dem Himmel, dem Licht. Einige der großen Kiesel haben sich in so etwas wie Planeten verwandelt, Rusalkas nächste Welt ist die Unendlichkeit, ist die Ewigkeit. Sie muss keine Rücksicht mehr nehmen. Wir können ihr nicht mehr folgen.
Das Konzept der Inszenierung von „Rusalka“ wird beeindruckend durch das schlichte, aber ungemein suggestive Bühnenbild von Klaus Grünberg unterstützt. Die Bühne besteht zu Beginn aus großen, kieselähnlichen Steinen, darüber hängt die Fläche, hinter der die nächste Welt liegt. Von Akt zu Akt weitet sich die Szenerie, so wie sich auch Rusalka weiter entwickelt. Es ist sehr stimmungsvoll (und spektakulär), wie sich die Welten nahtlos ineinander umwandeln. Das Bühnenbild illustriert die Handlung und ermöglicht gleichzeitig viele Assoziationen. Es ist klar und stimmig bis in die Details. Im Saal der Festgesellschaft zum Beispiel gibt es eine Vitrine mit Sammlerstücken: es sind Flusskiesel. Ganz subtil wird so gezeigt, was Rusalka für den Prinzen und seine Gesellschaft ist: ein neues Sammlerstück.
Die Inszenierung von Tatjana Gürbaca verbindet auf beeindruckende Weise die verschiedenen Welten und zeigt, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Die Wandlungen des Bühnenbilds unterstützen diese Idee, indem sich Elemente der einen Welt in der nächsten Welt wiederfinden. Die klare Personenführung und die sprechende Musik von Dvořák tragen ebenfalls dazu bei, dass die Emotionen und Handlungen der Charaktere unmittelbar verständlich sind, auch wenn man den Text nicht kennt. Die Inszenierung ist so wunderbar tiefsinnig, sinnlich und durchdacht. Man muss es wohl mehrfach sehen, um alle Details aufzunehmen.
Die Vorstellung war auch ein wahrer Genuss für die Ohren. Die musikalischen Leistungen des Ensembles, des Chors und des Orchesters begeisterten.
Besonders hervorzuheben ist Kiandra Howarth in der Titelrolle. Ihre intensive Rollengestaltung und die Ausdrucksstärke ihres Soprans waren beeindruckend. Ihre Sehnsucht und ihr Wille, ihre Wut und ihre seelische Not wurden fühlbar. So eine enorme Präsenz auf der Bühne ist selten zu sehen. Dazu bezauberte sie mit ihrem leuchtenden und unglaublich wandlungsfähigen Sopran. Viel besser kann man diese Rolle kaum singen und gestalten. Das war eine zauberische Wucht!
Shavleg Armasi als Wassermann war ebenfalls großartig, eine perfekte und äußerst sensible Rollengestaltung, bassstark und groß gesungen.
Monika Walerowicz verwandelte die zynische Hexe Jezibaba in ein menschliches Wesen, verletzlich trotz des vordergründigen Zynismus. Das war eine äußerst ausdrucksstarke und stimmlich hervorragende Darbietung!
Gerard Schneider sang den Prinzen mit leuchtender, eleganter Stimme. Im zweiten Akt klang er mir etwas leise, das war im dritten Akt besser. Strahlend und dominant sang Magdalena Anna Hofmann die fremde Fürstin.
Die Oper Hannover hat das Privileg, selbst für kleinere Rollen großartige Sängerinnen und Sänger im Ensemble zu haben. Luvuyo Mbundu als Heger und Nina van Essen als Küchenjunge – das ist purer stimmlicher Luxus! Als Nixen bezauberten Petra Radulović, Beatriz Miranda und Freya Müller, als Jäger Peter O‘Reilly – alle empfahlen sich für größere Rollen.
Stephan Zilias leitete unglaublich einfühlsam und präzise durch den Abend, das Niedersächsische Staatsorchester begleitete das Ensemble und den Chor erstklassig. So sensibel und stimmungsgenau zu spielen, das war schon große Kunst. Jede musikalische Linie wurde uns dargeboten wie ein prächtiges Geschenk. Ein wahrhaftiger Genuss!
Das hingerissene Publikum belohnte die Darsteller am Ende mit über zehn Minuten Beifall, Bravos und Standing Ovations. Sowohl musikalisch als auch szenisch sahen wir eine Produktion auf höchstem Niveau. Eine grandiose Inszenierung, eine hervorragende musikalische Umsetzung und herausragende Solistinnen und Solisten sorgten für einen unvergesslichen Abend. Das muss man gesehen und gehört haben!
Achim Riehn