Was ist hier wahr, was Wahn? Zeigt diese Kammeroper von Philip Glass nach einer Erzählung von Edgar Allan Poe die Realität oder schauen wir hinein in einen Albtraum? Die Inszenierung dieses Stücks durch die südafrikanische Regisseurin Victoria Stevens lässt uns Abtauchen in das Unaussprechliche hinter den Figuren. Eine faszinierende, überaus intensive Seelenreise erwartet uns! Es ist eine Produktion des Internationalen Opernstudios, der künstlerischen Nachwuchsabteilung der Staatsoper, wunderbar und berührend umgesetzt, gesungen und gespielt.
Foto: Achim Riehn
Philip Glass (* 1937) ist einer der wichtigsten Komponisten der Minimal Music, die gekennzeichnet ist durch die Aneinanderreihung, Wiederholung und subtile Veränderung kleinster, meist tonaler Motive. Zum hypnotischen Sog dieser Musik präsentiert Glass uns eine Geschichte um den Zerfall einer Familie, um Geheimnisse, um Unausgesprochenes und Verdrängtes.
Als Vorlage diente Philip Glass und dem Librettisten Arthur Yorinks eine der berühmtesten Horrorgeschichten von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1839. Eine Familie zerfällt in dieser Geschichte, sie bricht zusammen unter der Last der Vergangenheit, über die aber nie gesprochen wird. Etwas Grauenhaftes muss passiert sein, aber was? Mit jedem weiteren Satz der Geschichte wird man hineingezogen in das Dunkle, in das Unaussprechliche, in das Unterbewusste. Realität oder Trauma? Alles bleibt offen, eine Erklärung wird der Phantasie der Leserinnen und Leser überlassen.
Philip Glass und Arthur Yorinks gelingt es in ihrer Kammeroper aus dem Jahr 1988, dieses Ungewisse, diese Übersteigerte, dieses Herzzerbrechende noch zu intensivieren. Wir tauchen hinein in die Seele, die ein Gefängnis ist, ein zerstörter, toter Ort.
Der Inhalt lässt sich schnell erzählen. Der junge William erhält einen Brief von seinem Jugendfreund Roderick Usher, in der dieser um einen Besuch bittet. Der Brief klingt wie ein Hilferuf. Lange hat man sich nicht mehr gesehen. William trifft auf einen Freund, der schwermütig ist und kränkelt. Auf dem Landsitz lebt zudem noch Madeline, die Schwester von Roderick, an die sich William aber nicht richtig erinnern kann. Auch Madeline siecht dahin. Vergeblich versucht William, Roderick dazu zu bewegen, diesen ungesunden Ort zu verlassen.
Zu Beginn des 2. Akts stirbt Madeline und wird in der Familiengruft begraben. Einige Tage später tobt draußen ein Sturm. William muss mit ansehen, wie Roderick immer unruhiger wird. Er will Geräusche im Haus gehört haben. William hört sie nicht. Roderick bricht zusammen, er gesteht, dass er seine Schwester lebendig begraben hat. Madeline steht plötzlich blutüberströmt in der Tür und wankt auf ihren Bruder zu. Der stirbt an diesem Schock, aber auch Madeline überlebt dies nicht.
Das ist eine sehr mysteriöse Geschichte, geheimnisvoll und unheimlich. Es geht um Urängste, um Traumata. Alles dreht sich um drei Personen auf der Bühne, die eine gemeinsame Vergangenheit haben, über die sie aber nicht offen reden können oder wollen. Die Geschichte lässt offen, was Realität ist und was Einbildung. Das Publikum muss sich selbst ein Bild machen. Passiert das wirklich? Ist die Oper ein Albtraum, in dem die Personen in ihre verdrängte Vergangenheit abtauchen? Welche Beziehung bestand zwischen den drei Personen? Ist Madeline ein Geist, real oder nur Einbildung? Wurde sie tatsächlich lebendig begraben oder ist das nur ein Wahn? Welches Geheimnis um ihre Beziehung verbergen William und Roderick? Poe deutet vieles nur an, sagt aber nichts Konkretes. Die Phantasie des Publikums muss dieses Geheimnis entschlüsseln. Je dunkler diese Phantasie ist, desto düsterer wird die Lösung ausfallen.
Die nervöse und geheimnisvolle Stimmung der Geschichte wird von Philip Glass faszinierend in Musik eingefangen. Die Oper ist fast ein Stück für Orchester mit vokalen Tupfern, der Text spielt nicht die Hauptrolle. Die sich ständig wiederholenden und verändernden musikalischen Motive bilden einen intensiven Klangteppich, der die Realität aufhebt. Ihr ständiger, subtiler Wandel verdeutlicht die immer neu auftauchenden Aspekte der Geschichte, die sich vor (und in) William und uns entwickelt. Glass erzeugt Schleifen aus Klang, die sich gefühlt endlos wiederholen. Es entsteht so ein Schwebezustand, ein Gefühl des Auflösens der Zeit, der Zeitlosigkeit. Alle konkreten Strukturen lösen sich auf. Was passiert im Stück hinter dieser Fassade, das ist die wichtige Frage!
Diese Musik schafft emotional bewegende Momente. Mich hat zum Beispiel der Beginn der Oper zutiefst beeindruckt. Roderick spricht seinen verzweifelten Brief, man sieht dazu sein Gesicht auf der Videowand. Danach setzt die Musik ein, so herzzerreißend, so emotional, dass es mir die Tränen in die Augen getrieben hat.
Die ganzen Geheimnisse um die Personen sind die Dinge, die die Inszenierung angehen muss. Victoria Stevens versucht, das Unklare der Geschichte auch so abzubilden. Irgendetwas ist in der Vergangenheit geschehen, irgendetwas Entsetzliches wurde verdrängt. Oder bilden sich das die Personen nur ein? Um diese Ebenen parallel dazustellen, wird das Geschehen auf der Bühne permanent mit kommentierenden, zurückblickenden Videos begleitet. Die Vergangenheit, oder das, was die handelnden Personen dafür halten, wird auf der Videoleinwand sichtbar. Victoria Stevens setzt voll auf die tragische Dimension dieser Geschichte, auf das Geheimnis zwischen den Personen. Die Vergangenheit liegt im Dunkel und bleibt im Dunkel, aber die Musik gibt Hinweise. Besonders harmonisch und magisch ist sie zum Beispiel, wenn William und Roderick zusammen auf der Bühne stehen. Freundschaft oder Liebe, das bleibt offen, aber auf jeden Fall ist oder war da etwas Tiefes.
Die Oper ist ein Fünfpersonenstück, es gibt drei Hauptpersonen und zwei Nebenpersonen (Diener und Arzt). Vier der Sängerinnen und Sänger sind Mitglieder des Internationalen Opernstudios der Oper Hannover. Viele Details der Inszenierung sind in Improvisationen der Beteiligten erarbeitet worden.
Die Inszenierung spielt mit starken Bildern, setzt auf stimmungsvolle Details, nutzt die Körper der Sängerin und der Sänger als Projektionsfläche. Roderick schreibt die Worte seines Briefes an William direkt auf sein Gesicht. Die Videowand im Hintergrund zeigt es ganz nah, zeigt die Verzweiflung, die Ratlosigkeit, die Sehnsucht nach Rettung. Mit einer Strichliste zählt er die Tage ohne Erlösung.
Madeline singt keine Worte, nur Töne. Sie erzählt keine Geschichte, an ihr und um sie herum wird die Geschichte erzählt. Madeline wird gedoppelt durch ein junges Mädchen auf der Bühne. Es ist Madeline zu dem Zeitpunkt, zu dem offensichtlich „etwas“ passiert ist.
Auf Monitoren auf der Bühne blitzen Erinnerungssplitter auf, dunkler Schlamm, Hände auf dem Rücken eines Kindes, Blut – bedrohlich und unheimlich, ahnungsvoll. Szenen aus der Jugend der Personen kontrastieren das Geschehen auf der Bühne. Texte auf den Monitoren spiegeln die Gedanken der Personen, meist die von Roderick.
Bühne, Ausstattung und Video (Anna-Sofia Kirsch, Charlotte Werkmeister, Uwe Wegner und Lukas Eicher) tragen ganz entscheidend zur Wirkung bei. Wir sehen kein düsteres Haus wie bei Poe. Die fast klinische Bühne spitzt die Konfrontation zwischen den Personen zu – man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Das Bühnenbild ist ein schlichtes weißes Quadrat, mit einem schwarzen Loch in der Mitte. Das schwarze dunkle Quadrat ist gleichsam das, was die Personen verdrängt haben. Ein Loch ist in der Bühne wie in der Geschichte, um das sich die Personen herumdrücken. Bildschirme stehen um diese Fläche herum.
Den Hintergrund beherrscht die große Videoprojektionsfläche. Diese weiße Projektionsfläche ist das Spiegelbild des fehlenden Teils des Bühnenbilds. Übertitel wie gewohnt gibt es nicht. Es gibt nur textliche Andeutungen, die in die Videoebene integriert sind. Der Text ist nicht von so großer Bedeutung.
Es ist interessant zu sehen und für die Geschichte aufschlussreich, wie die Personen mit diesem Loch in der Bühne umgehen. Der Diener und der Arzt, gekleidet wie Bestatter, wie Boten aus dem Totenreich, betreten selten die Bühne. Sie singen oft aus der Galerie über der Videoleinwand, wie zwei Schemen. Roderick umkreist das Loch permanent, geht nicht hinein, schaut auch fast nie hinein. William ist wenigstens ab und zu fähig, hineinzusehen. Zu den letzten Takten der Oper springt er fast verzweifelt in diesen Abgrund, zerstört eine Schachtel (mit Erinnerungen?). Für die erwachsene Madeline aber ist das Loch ihr Reich, in dem sie und von dem sie aus agiert. Ihre Geschichte ist das verlorene Element dieser Oper, darum dreht sich alles. Die junge Madeline wechselt zwischen den Orten, sie holt oft die Dinge hervor (z.B. die Schachtel), an denen sich dann Erinnungen entfalten.
Die Inszenierung öffnet durch Andeutungen Räume für Assoziationen und Lösungen. Victoria Stevens präsentiert uns keine vorgedachte Lösung. Wie real ist Madeline? Ist sie schon lange tot? Ist sie ein böser Geist, geboren aus verdrängten Schuldgefühlen? Das wäre meine Interpretation. Das Publikum soll das für sich entscheiden. Das Stück ist eine subtile Erkundung dieses Unausgesprochenen.
Besetzt ist das Stück bis auf eine Person aus dem Opernstudio. Es sind Sängerinnen und Sänger, die so alt sind wie die Figuren auf der Bühne. Diese Sängerinnen und Sänger sind voller Gefühle, sie sind jung und sie sind furchtlos! Es ist kein bekanntes Stück, das lässt ihnen Freiheit in der Interpretation. Es gibt viele gemeinsam eingearbeitete Improvisationen, so sagte es Victoria Stevens in der „Kostprobe“ zu dieser Inszenierung. Damit gewinnt die Darstellung viel Authentizität. Aber es ist Schwerstarbeit, die Sängerinnen und Sänger sind die ganze Zeit auf der Bühne. Sie erleiden die Spiel mit der Angst am eigenen Laib. Peter O’Reilly (Roderick), Lluís Calvet i Pey (William) und Petra Radulović (Madeline) in den Hauptrollen meistern das mit Bravour, genau wie in den Nebenrollen Jakub Szmidt (Diener) und als Gast Tobias Bialluch (Arzt). Ich habe selten so eine intensive Darstellung gesehen, selten so etwas unter die Haut Gehendes. Die Personen auf der Bühne spielten sich die Seele aus dem Leib, sie spielten, als ob es kein Morgen mehr gäbe.
Gesang und Darstellung flossen so intensiv ineinander, dass ich es schwer trennen kann. Peter O’Reilly (Roderick), Lluís Calvet i Pey (William) und Petra Radulovic (Madeline) bewältigten ihre Hauptrollen auch gesanglich großartig. Das galt ebenso für Jakub Szmidt (Diener) und Tobias Bialluch (Arzt) in den Nebenrollen. Nicht vergessen werden darf Lotte Thelen, die sehr bewegend die junge Madeline verkörperte.
Das klein besetzte Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Carlos Vázquez spielte diese hypnotische Musik ganz wunderbar, präzise und intensiv. Minimal Musik verwandelte sich hier in eine hochemotionale, mitreißende Klangwoge.
Mit diesem Stück ist der Staatsoper Hannover ein echter Volltreffer gelungen. Diese kongeniale Inszenierung von Victoria Stevens begeistert das Publikum durch das Konzept, die phantastischen musikalischen Leistungen und durch die unglaublich intensive Darstellung durch die Sängerin und die Sänger. Stefan Arndt hat es in der Hannoverschen Allgemeinen so gut gesagt, dass ich es hier aufgreifen muss: „Mit solchen Sängerinnen und Sängern braucht man sich um die Zukunft der Oper nicht zu sorgen.“ Ich ergänze: Mit solchen Regisseurinnen wie Victoria Stevens auch nicht.
Alles zusammen ist so geheimnisvoll, faszinierend und unerklärlich wie ein Film von David Lynch. Wir waren in einer ganz dunklen Episode von „Twin Peaks“. Alles ist stimmig, alle Details scheinen zusammenzupassen – aber man löst das Rätsel nicht. Und die Umgebung des Ballhofs trug zum Geheimnis bei: In einen Moment der Stille hinein schlug von fern die Glocke der Kreuzkirche achtmal, wie eine Totenglocke. Es hat sich herumgesprochen, wie gut und spannend dieses Stück ist: Es war ausverkauft. Der Großteil des Publikums war jünger als 30 Jahre, was mich zusätzlich gefreut hat.
Fia Felder, Kritikerin der „Opernwelt“, hat zur Premiere auf Twitter etwas geschrieben, das all meine Eindrücke in zwei Sätzen zusammenfasst. „Bin zu müde um eloquent zu sein, aber die gestrige Premiere von >The Fall of the House of Usher< […] war einfach unfassbar toll. […] Und Bravo an alle Beteiligten! “
Und dann hat sie noch einen Satz nachgeschoben: „Oh Gott, es war so gut. Geht da alle hin!“ So ist es! Also geht alle hin!!!
Achim Riehn