2. Sinfoniekonzert „Monument“ 27.10.2019

Wer ein Abo hat, der kennt das: Es stehen auch mal Stücke und Komponisten auf der Liste, die man persönlich nicht zu seinen Lieblingen zählt. Mir geht das mit Bruckner so, dem ich mit dem Vorurteil „massiv, monumental, monochrom“ gegenübertrete. Bisher ist es seiner Musik noch nicht gelungen, bei mir wahre Faszination auszulösen. Nichtsdestotrotz höre ich mir auch so ein Konzert gern an. Vielleicht springt diesmal der Funke über. Oder ich verstehe danach besser, warum diese Musik nicht zu meinen Favoriten gehört.

Die achte Sinfonie von Anton Bruckner ist die längste Sinfonie, die Bruckner geschrieben hat. Sie erscheint maßlos und extrem, sowohl in den Anforderungen an die Ausführenden als auch an die Zuhörenden. Sie ist wahrlich ein Monument. Constantin Trinks, der schon mit „La Juive“ begeistert hatte, leitete das Niedersächsische Staatsorchester. Er ist ein erfahrener Wagner-Dirigent, als Opern- und Konzertdirigent ist er weltweit gefragt. Das Orchester selbst hat eine lange Bruckner-Tradition. Diese Kombination versprach mir auf jeden Fall neue Einsichten. Diese neunzig Minuten müssen gemeinsam von Dirigent und Orchester gestaltet werden. Bruckner selbst hat in der Partitur nur wenige Hinweise gegeben (so die Orchesterdramaturgin Swantje Köhnecke in der Einführung). Das Konzert war gut besucht, offenbar waren viele Menschen gespannt auf diese Erfahrung.

Über Musik kann ich immer nur in Bildern und Assoziationen sprechen, so ist es auch hier. Leise beginnt der erste Satz, wie aus der Tiefe. Ein Vorhang wird aufgezogen und gibt den Blick frei. Dann wird die Musik heftiger, es ist ein Gefühl der Beklemmung spürbar. Wir blicken hinein in eine Seele in Not. Das Geschehen beruhigt sich schließlich, der Tonfall wird beschwichtigend und fast idyllisch. Nach diesem Auftakt wechseln sich heftige und ruhige Abschnitte ab. Der Satz sucht nach Erlösung, findet sie aber nicht.

Dirigent und Orchester arbeiteten dies großartig heraus. Die Kontraste zwischen den fast harschen Trompetenfanfaren und den ganz zarten Passagen wurden so fast körperlich spürbar.

Der Schluss dieses Satzes ist dann ganz leise. Die Musik fällt zusammen in Erschöpfung, sie verklingt, läuft aus, stirbt ab. Es ist kein Ende in Triumph, es ist ein Ende in Einsamkeit. Bruckner zugeschrieben wird dazu die Aussage, dies klänge so, als ob man im Sterben liegt und gegenüber hängt eine Uhr, die dabei immer gleichmäßig weiter schlägt. Auch dieses trostlose Verdämmern gestalteten die Musiker so, dass es ans Herz ging.

Licht leuchtet endlich herein im zweiten Satz. Die Musik tanzt um sich selbst, mit sich selbst. Kraftvoll und lebendig sind die Höhepunkte, fast auftrumpfend. Die Mitte des Satzes ist dann eine riesige, idyllische Insel voll mit träumerischen Klängen, bevor der tänzerische Teil wieder einsetzt. Blechbläser schallen wie von fern herein, Harfen erklingen. Die Schlusssteigerung reißt dann noch einmal den Himmel auf und lässt gleißendes Licht herein.

Dirigent und Orchester ließen in den tänzerischen Passagen die Musik vor Lebensfreude sprühen, was wunderbar mit den ruhevoll idyllischen Teilen harmonierte.

In starkem Kontrast dazu beginnt der dritte Satz ganz ruhig. Die Stimmung erinnert zu Beginn fast an die stillen, klagenden Sätze in den Sinfonien von Schostakowitsch. Ist das eine Trauermusik? Tröstende Einsprengsel ertönen, Harfengesang – es ist wie Licht, das auf den Sarg fällt. Dramatik und Ruhe wechseln sich ab, wir werden in einen Dialog der Stimmungen hineingezogen. Dann folgt doch noch ein fast leuchtender Aufschwung, ein Aufschrei – aber der Satz verdämmert, klingt aus. Stehen wir am nun geschlossenen Grab? Es ist, als ob die Musik sich langsam von uns entfernt und uns allein lässt mit unseren Gefühlen.

Dreißig Minuten dauert dieses Adagio, dieser Trauergesang. Es ist schwer, die Spannung zu halten. Aber den Musikern gelang dies, ich folgte der Musik fast atemlos gespannt. Man bemerkt dies vielleicht auch an den vielfältigen Assoziationen, die ich gehabt habe.

Ein energisch auftrumpfender Beginn leitet im vierten Satz über in vorwärtsstürmende Musik, die den Himmel erklimmen will. Verschiedene Stimmungen stehen in diesem Satz nebeneinander – suchend-gehend, sinnierend-ruhig, auftrumpfend-energisch. Die Musik schwankt zwischen diesen Gefühlen, ohne sich zu entscheiden. Zum Schluss ringt sich die Sinfonie durch zu einem C-Dur-Triumph und -Jubel, in dem alle Themenzellen übereinandergeschichtet werden. Petrus öffnet für uns die Pforten zum Himmelreich, das ist meine Assoziation.

Die dreißig Minuten dieses Satzes sind vielleicht am schwersten zu gestalten. Schroff stehen die Stimmungen gegeneinander, abrupt versanden die Aufschwünge. Es ist herausfordernd, hier die Spannung zu halten. Aber auch hier gelang dies wunderbar.

Der beste Beweis für die gelungene Aufführung ist vielleicht, dass im Publikum fast absolute Stille herrschte, Husten und Räuspern beschränkte sich auf die Satzpausen. Es gab verdienten großen Beifall. Es fällt schwer, Personen im Orchester hervorzuheben, es agierte zusammen mit Constantin Trinks als perfekte Einheit. Alle Soli gelangen großartig.

Über vier Sätze und neunzig Minuten spannte sich ein großer musikalischer Bogen. Dirigent und Orchester ließen einen Raum entstehen, in dem die Zeit stillzustehen schien. Diese Sinfonie wurde so zu einer riesigen Meditation über das Hier und das Jenseits.

Nach diesem Konzert musste ich draußen zwischen all den Lichtern an Musik denken, die ich vor einigen Wochen entdeckt habe, die 5. Sinfonie von Heinz Winbeck. Der Komponist schrieb seine Sinfonie, als er sich intensiv mit Bruckners Skizzen zum fehlenden Schlusssatz der 9. Sinfonie beschäftigte. Es war, als ob man durch dunkles Eis in eine unendliche Tiefe blickt, aus der Bruckners Musik heraufleuchtet. Dieser Satz zu Winbecks Musik drückt auch aus, was ich nach diesem Konzert des Niedersächsischen Staatsorchesters empfunden habe. In der achten Sinfonie schaut man hinter den Vorhang, hinter die pompöse Fassade, hinein ins Innere. Ein Blick in eine lichtschimmernde Tiefe, in der ein Geheimnis verborgen ist. Bruckner kann faszinierend sein!

Hans-Joachim Riehn

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