Beginnen möchte ich mit einer Oper, die in diesen Tagen an der Staatsoper Hannover Premiere gehabt hätte – „The Greek Passion“ von Bohuslav Martinů. Als die Schließung des Opernhauses klar war, habe ich mir sofort eine Aufnahme dieser Oper bestellt. Sie ist aus dem Jahre 1981, es spielt das Tschechische Radiosinfonieorchester unter Libor Pešek, erschienen ist die Aufnahme bei Supraphon.
Ich war beim Hören sofort fasziniert. Es ist großartige Musik, die zu Herzen geht. Kristallklare, klassizistische Klänge mischen sich mit böhmischen Weisen und an byzantinische Kirchenmusik gemahnenden Tönen, Szenen hoher dramatischer Wucht wechseln sich mit fast impressionistisch intimen Nummern ab.
„The Greek Passion“ ist eine vieraktige Oper von knapp zwei Stunden Länge. Das Libretto beruht auf dem Roman „Der wiedergekreuzigte Christus“ von Nikos Kazantzakis und wurde von Martinů in Zusammenarbeit mit dem Romanautor erstellt. Dabei wurde der Stoff allerdings entpolitisiert und die sozialkritischen Tendenzen und das Thema der Fremdherrschaft traten in den Hintergrund. Den Hintergrund der Handlung bilden die Migrationswellen, die Anfang der 1920er Jahre während des Krieges zwischen Griechenland und der Türkei in Kleinasien stattfanden.
Die Komposition entstand zwischen 1956 und 1959. Die am Royal Opera House Covent Garden geplante Uraufführung fand jedoch aus fadenscheinigen Gründen nicht statt. Es wurde zum Beispiel moniert, dass die Oper zu viel gesprochenen Text enthielt. Martinů überarbeitete die Partitur daraufhin, er reduzierte die gesprochenen Passagen und ersetzte die ursprünglich fast durchgehenden Rezitative durch Ariosi. Diese Zweitfassung wurde 1961 in Zürich uraufgeführt, der Komponist war da schon gestorben. Die Uraufführung der Erstfassung erfolgte 1999 in Bregenz. Meine Aufnahme beruht auf der Züricher Fassung, sie ist in tschechischer Sprache.
Der Oper beginnt damit, dass in einem vom Krieg noch nicht betroffenen griechischen Dorf zu Ostern ein Passionsspiel vorbereitet wird. Die Darsteller werden ausgewählt und beginnen, sich in ihre biblischen Rollen hineinzudenken und hineinzuleben. Da trifft eine Gruppe von Flüchtlingen ein, die aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Der Dorfpriester Grigoris verweigert ihnen jede Hilfe, die Passionsspieldarsteller Manolis (Jesus) und Katerina (Maria Magdalena) unterstützen sie. Schließlich wird den Flüchtlingen gestattet, ein Dorf an einem Berg in der Nähe zu bauen. Aber sie kommen aus ihrer Not nicht heraus, Kinder verhungern. Soll man helfen? Der Konflikt in der alteingesessenen Bevölkerung eskaliert. Die christliche Heilslehre wird durch den Ernstfall auf die Probe gestellt. Die Botschaften der Bergpredigt, die Manolios immer stärker vertritt, sind den konservativen Kräften, repräsentiert durch Grigoris, immer stärker ein Dorn im Auge. Die biblische Botschaft erweist sich für sie als zu revolutionär. Als die Flüchtlinge erneut auf der Suche nach Hilfe im Dorf auftauchen, eskaliert die Situation. Der Christusdarsteller Manolios wird exkommuniziert und schließlich vom Darsteller des Judas getötet. Die Flüchtlinge müssen weiterziehen.
Das Thema dieser Oper ist brennend aktuell. Auch wir stehen vor der Frage, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Sind sie Bereicherung oder Bedrohung? Ist es einfach unsere christliche Pflicht, zu helfen? Die Positionen aus der Oper finden sich auch heute in unserer Gesellschaft wieder. Auch wir stehen vor der Frage, wie wir gesellschaftliche Verantwortung interpretieren und wie weit wir bereit sind, zu helfen. Die Oper ist zudem ein Spiel mit Identitäten – die Passionsdarsteller tauchen immer tiefer in ihre Rollen ein, verinnerlichen sie. Diese Ebene thematisiert die zutiefst individuellen Fragen, wer ich bin und wer ich werden kann.
Die Musik ist melodiös, vielschichtig und mitreißend. Klangvolle, moderne Musik in einer klaren Sprache mischt sich mit fast oratorischen Hymnen. Die Gesangsmelodien sind an die Sprachmelodie angelehnt, es gibt böhmische Klänge, Janacek und sogar Dvorak schimmern durch. Griechische Volksweisen und byzantinische Kirchenmusik fügen Lokalkolorit hinzu.
Die Oper ist voll von Schönheiten. Es fällt schwer, sich in diesem Text nur auf einige Szenen zu beschränken. Ich will es aber versuchen. Die folgenden Nummern haben mich besonders beeindruckt.
„Christ is risen: Joy!“ – die Oper beginnt mit einer weihevollen Choralmelodie, von Paukenwirbeln unterstrichen. Die Glocken einer Kirche ertönen. Ein enthusiastischer Chor singt, Solisten kommen mit ariosen Rezitativen hinzu. In der Szene „Lord! Lord!“ setzt ein Fernchor ein, die Flüchtlinge kommen an. Die Musik ist hier fast impressionistisch zart. Die Klangfärbungen sind wunderbar fein herausgearbeitet. Besonders beeindruckend ist dann das „Kyrie eleison!“, der Chor der angekommenen, völlig erschöpften Flüchtlinge. Leise singt der Chor, grundiert von ganz tiefen Pauken- und Trommeltremolos, die wie ferner Geschützdonner hineinklingen. Das ist emotional und mitreißend. Der erste Akt endet mit „Daughter of the Almighty“ in einem hymnischen Chor, gefolgt von einem Orchesterepilog, fast himmlisch verklärt.
Das Weihevolle, Kirchliche des ersten Akts tritt dann im zweiten Akt zurück, die Dramatik in der Musik nimmt zu. In den Konfrontationen der Personen steigert sich die Musik in heftige Ausbrüche hinein. Ja, das ist romantische Musik, aber manchmal scharf wie ein Messer.
„Play, Nikolio, take your pipe and play something“. Der dritte Akt beginnt großartig, zart und fast intim, mit fast pastoral anmutender Melodik. Das verwandelt sich in eine Traumszene, impressionistisch und klangfarbenreich. Einer der absoluten Höhepunkte ist dann die Predigt des Manolio: „Christ was on the mountain“. Das ist Musik voller Schönheit, Innigkeit, ekstatisch und romantisch.
Der dritte Akt ist nach den eher dramatischen ersten zwei Akten so etwas wie eine lyrische Zone. Im vierten Akt nimmt die Dramatik dann wieder stark zu. Die Exkommunizierungsszene ist hochdramatisch, ebenso wie die Ermordung Manolios. Mit dem Mord verstummt die Musik schockartig, dann setzt eine ganz traurige, ruhige Melodie ein. Martinů versteht es großartig, das Geschehen auf der Bühne in die Musik hineinzuspiegeln. Zu den bewegendsten Momenten gehört für mich das Gebet aller an der Leiche Manolios: „Oh Lord let our cry, our cry come until Thee“. Das ist eine zutiefst traurige Hymne, getragen vom Chor, hochemotional und bewegend, mit Paukenwirbeln in der Tiefe.
Für das Ensemble eines Opernhauses ist dieses Werk ein Fest, so viele Solopartien hat man selten. Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann stehen beispielsweise sechs Tenöre auf der Besetzungsliste. Zudem hat der Chor eine ganz wichtige Rolle, in einer Szene kommt sogar ein Kinderchor hinzu. Das Orchester ist nicht nur Begleitung, sondern Partner, Soloinstrumente bekommen in einigen Szenen tragende Rollen. Es ist eine Oper, die das Publikum bei einer Aufführung begeistern wird. Ich hoffe sehr, dass wir sie in Hannover so bald wie möglich sehen können.
Auf Youtube kann man die mir vorliegende Aufnahme mit der Suche „Bohuslav Martinů: Řecké pašije“ finden.
Hans-Joachim Riehn