Deutsche Erstaufführung „humanoid“ am 11.06.2022: ein Thriller über das Wesen der Identität

Ein spannender Thriller mit einer ganz aktuellen Thematik – das zeigte uns die Staatsoper Hannover mit dieser deutschen Erstaufführung. Wie kann ich sicher sein, dass ich echt bin und kein künstliches Wesen, angetrieben durch eine künstliche Intelligenz? Wer bin ich wirklich? Diese sechzigminütige, faszinierende Oper (Inszenierung von der GFO gefördert) für ein Kammerensemble und sechs Sängerinnen und Sänger brachte mich zum Nachdenken über das Wesen der Identität.

Szenenfoto aus „humanoid“ (Foto und Copyright: Clemens Heidrich)

Der niederländische Komponist Leonard Evers (* 1985) hat erst seinen Bachelor in Literaturwissenschaft gemacht und dann ein Kompositionsstudium angeschlossen, das er mit Auszeichnung abschloss. Er gilt als einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten für junge Oper. In „humanoid“, 2019 in Winterthur uraufgeführt, geht es um das Abgleiten in digitale Welten und um die Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Das Libretto dieser Oper stammt von der Schweizerin Pamela Dürr. Die Abgründe des Stücks enthüllen sich erst allmählich. Aus einer melancholischen und etwas merkwürdigen Liebesgeschichte wird ein bedrohlicher Thriller.

Nach dem Unfalltod seiner Freundin hat sich der Roboterkonstrukteur Jonah in eine selbstgeschaffene künstliche Welt zurückgezogen, die er mit menschenähnlichen Androiden bevölkert hat. Als perfekte Frau hat er sich Alma erschaffen, deren Gedächtnis er jeden Tag wieder löscht. Sie erlebt jeden Tag, als wäre es ihr erster Tag. Sein Freund Piet ist nüchterner und warnt ihn, sich nicht zu sehr in diese Welt zu verlieren. Dann gibt es da noch Vivienne, die ihn liebt, die ihm nah sein will. Jonah aber will das nicht, obwohl immer noch Anziehung da ist. Weiter gibt es noch den Roboter Juri, ein einfaches, frühes Modell, das nur darauf programmiert ist, das nächste Level zu erreichen. Diese merkwürdige Welt wird von einem Eindringling gestört, dem Kind, anarchisch und frei, wie es Kinder sind. Das Kind befreundet sich mit Alma und will ihr helfen. Es sichert ihr Gedächtnis auf der Festplatte von Juri und spielt es zurück. Es bringt ihr das Konzept des freien Willens bei. Alma wird sich ihrer selbst bewusst. Ihr wird klar, was jede Nacht mit ihr passiert. Die Situation eskaliert. Es wird enthüllt, das Vivienne ein früher Versuch ist, die tote Freundin wieder zu erschaffen. Alma befreit sich, in den Auseinandersetzungen „sterben“ Vivienne und Jonah. Aber was ist sterben – wir werden im Unsicheren darüber gelassen, wer hier überhaupt Mensch war und wer Maschine.

Leonard Evers kleidet dies in eine vielgestaltige, abwechslungsreiche Musik. Personen und Gefühle bekommen ihr eigenes musikalisches Gesicht. Klänge aus der großen, romantischen Oper mit Tristan-Anklängen (Jonah) mischen sich mit Musical- und Jazz-Elementen (Piet), Computerspielmusik (Juri) und zeitgenössischen Klängen. Musikalische Genres verschmelzen so zu etwas Eigenem. Evers verwendet Leitmotive, um Personen und Gefühle zu kennzeichnen. Dies macht die Handlung auch auf der rein musikalischen Ebene nachvollziehbar. Die den Personen zugeordnete Musik verändert sich mit deren Entwicklung. Wenn Piet zum Schluß der Oper an seiner Existenz als Mensch zweifelt, dann erklingt dazu Musik mit Elementen aus Jonahs Welt. Almas musikalische Welt ist zu Beginn genauso neu und leer wie ein weißes Blatt Papier. Erst im Laufe ihrer Entwicklung reichert sich ihre Musik an. Bis auf den Game-Roboter Juri haben alle Personen/Androiden eine menschliche Musik, die die Grenzen zwischen Mensch und Roboter verwischt.

Leonard Evers fasst es im Programmheft so zusammen: „Darum geht es ja generell in einer Oper: Die Gedanken und Emotionen der Figuren durch Musik erfahrbar zu machen. Was bei dieser Oper so spannend ist: Manche der Figuren sind keine Personen, sondern Roboter. Die Musik macht hier also auch die Innenwelten von nicht-menschlichen Figuren erfahrbar.“ Mit der musikalischen Gestaltung verfolgt er eine klare Absicht: „Ich möchte die Möglichkeit offenhalten, dass das alles vielleicht in einer Traumwelt und gar nicht in der Realität passiert.“

Die Inszenierung von Tobias Mertke (Dramaturgie Rosalie Suys) bildet dies alles zusammen mit der Bühne und den Kostümen von Julia Burkhardt und dem Licht von Uwe Wegner kongenial ab. Der Raum sieht aus wie ein Szenario aus einer künstlichen Welt, auf einige wesentliche Details wie so etwas wie eine Steuerkonsole reduziert. Lichterfüllte Quadrate im Boden, einige leuchtende Kristalle aus Glas, viel mehr Licht gibt es nicht in diesem dunklen Raum. Ich wurde an Szenarien aus dem Film „Tron“ erinnert, der auch in so einer künstlichen Welt spielt. Aber dieser Raum hier ist mehr als nur ein Raum, er scheint selbst von einer Art Intelligenz erfüllt zu sein. Mit der Stimme von Carmen Fuggiss kann er kommunizieren. Leuchtröhren an den Wänden beginnen in strahlendem Blau aufzuleuchten, wenn die Personen auf der Bühne emotional werden. Ja, dieser Raum lebt, er hat offenbar eine eigene Persönlichkeit, kann mit den anderen Wesen interagieren. Alles zusammen ergibt das eine unwirkliche, bedrohliche Szenerie, in der man als Zuschauer gleichzeitig fasziniert und etwas schaudernd hineinschaut. Und je länger man zuschaut, desto mehr stellt sich eine Frage: haben diese Roboter vielleicht eigene Gefühle? Jonah benutzt sie nach Belieben, schaltet sie ab, löscht sie – ist das dann nicht ein schweres Verbrechen?

Leonard Evers fasst es so zusammen: „Ich glaube, in dieser Oper gibt es kein gut und böse, es passieren aber böse Dinge. Gleichzeitig hinterfragen wir, ob diese Dinge tatsächlich real passieren. Mit der Musik versuche ich zu ermöglichen, dass man den Charakter versteht und sich zu einem gewissen Teil vielleicht sogar identifizieren kann. Nur so kann es gelingen, dass das Publikum sich und die Figuren hinterfragt und feststellt, dass es keine einfachen Antworten auf die Themen und Fragen dieser Oper gibt.“

Die Oper wurde in deutscher Sprache gesungen, zu einem großen Teil war dies auch gut verständlich. Da die Geschichte aber einigermaßen komplex ist, hätte ich dennoch deutsche Übertexte gut gefunden. Ich hätte mich dann noch konzentrierter auf die Geschichte einlassen können.

Vier Sängerinnen und Sänger des Opernstudios der Staatsoper Hannover standen auf der Bühne, zusammen mit einem weiteren Ensemblemitglied (Frank Schneiders) und einem Gast (Tobias Hechler). Alle überzeugten!

Peter O’Reilly als Jonah strahlte Verletzlichkeit aus. Sein Jonah ist eine traumatisierte Person, von Traurigkeit erfüllt, ohne Freude auf die Zukunft. Seine Tenorstimme rührte an, ich fühlte in jeder Sekunde mit, ein wunderbares Rollenportrait. Er tut Böses und trotzdem ist man irgendwie auf seiner Seite.

Petra Radulović verstand es großartig, den Wandel Almas von einer puppenartigen Gestalt ohne Gedächtnis und Innenleben hin zu einem bewussten Wesen deutlich zu machen. Ihrem beweglichen und strahlenden Sopran gelangen die anrührende Naivität der Anfangsszenen und die fast dämonische Entschiedenheit des Schlusses gleichermaßen gut.

Der Countertenor Tobias Hechler als das Kind verkörperte die fast anarchistische Freiheit dieser Rolle ebenfalls hervorragend. Naivität, Freude am Chaos, Durchtriebenheit, alles war da. Seine reine Stimme hatte dabei immer etwas Glitzerndes, Leuchtendes, schön!

Der warme, klangschöne Mezzosopran von Weronika Rabek war ideal geeignet, um die zärtlichen, romantischen Klangfarben der Vivienne abzubilden. Beeindruckend auch die darstellerische Leistung in der Szene, in der Vivienne bewusst wird, dass sie eine Androidin ist.

Darwin Prakash als Piet ist zu Jazz- und Musicalklängen unterwegs. Sein klangschöner Bariton passt perfekt dazu. Der Text der Rolle ist eher nüchtern, trotzdem schimmerte in der gesanglichen Gestaltung immer etwas Verschmitztes durch. Ich freue mich auf seinen Rossini-Figaro!

Frank Schneiders als Juri war hinreißend. Zu Beginn des Stückes wandelt er zu Computerspielklängen über die Bühne, hat als Text nur sein stereotypes „Bonus topped. Next Level“. Das ist lustig und witzig. Im Verlauf des Abends kam immer mehr Text dazu, Frank Schneiders reicherte das mit zunehmend dämonischen Klangfarben an. Wunderbar, wie man sich zunehmend grauste!

Das Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung von Giulio Cilona war der heimliche Star des Abends. Die Musik ist komplex, andauernd wechseln die Farben, alles muss auf den Punkt kommen. Das gelang ganz hervorragend!

Vollkommen verdient gab es am Schluss stürmischen Beifall des recht jungen Publikums für alle Beteiligten. Es geht hier um Gefühle, es geht um Menschlichkeit, es geht um Trauer, es geht um Spaß, es geht um Identität. Das sind Themen, die berühren. Für mich ist dieses Stück eine Oper für alle, die Thematik ist für mich ja allgemeingültig. Die sechzig Minuten machten Spaß, gaben Stoff zum Nachdenken. Es war ein schöner, spannender Abend mit überraschend abwechslungsreicher Musik. Ein Dank an alle dafür!

 

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