“Man muss als Musiker einfach so viel wie möglich hören, sehen, erleben, diskutieren“. Ein Gespräch mit Stephan Zilias, ab Herbst 2020 Generalmusikdirektor an der Staatsoper Hannover

(Foto und Copyright: Simon Pauly)

Ab der Saison 2020/21 wird der 34-jährige Dirigent Stephan Zilias Generalmusikdirektor an der Staatsoper Hannover. Ich hatte die Gelegenheit, für die Gesellschaft der Freunde des Opernhauses Hannover mit ihm ein Interview zu führen. Eigentlich hätte es ein Gespräch von Person zu Person sein sollen, aber die Umstände ließen das nicht zu. So begannen wir, ab dem 19. März über Tage Messages auszutauschen, meist in den späten Abendstunden. Die Krise um uns herum ließ uns nicht unberührt, diesen dunklen Schatten spürten wir an fast jedem Tag. Aber Musik ist etwas, was uns aufrecht erhält. So wurde dies ein sehr angenehmes und in die Tiefe gehendes Gespräch. Vorher hatte ich mir Stichworte zu Fragen überlegt, aber ganz zwanglos kamen wir dann doch auf ganz neue Gesprächsthemen.

Achim Riehn:
Wir von der „Gesellschaft der Freunde des Opernhauses Hannover“ (GFO) freuen uns sehr, dass Sie sich die Zeit für ein Interview nehmen. Live wäre natürlich persönlicher, aber das geht in dieser Situation nicht. In dieser schwierigen Zeit steht der Kulturbetrieb still, auch an der Deutschen Oper Berlin, an der sie arbeiten. Was macht ein Dirigent jetzt? Wie und woran arbeiten Sie?

Stephan Zilias:
Also, momentan kann ich nicht wirklich arbeiten, obwohl wir heute morgen mit der Leitungsrunde der Oper in Hannover eine sehr nette und produktive Video-Konferenz hatten. Aber ich bin ja mit meiner Frau und unseren zwei kleinen Kindern allein zuhause, Kitas sind bekanntlich (und völlig zurecht) geschlossen. Ich vergesse manchmal, wie anstrengend-wunderbar das ist mit den Süßen! Wenn diese schlimme Zeit irgendeinen positiven Nebeneffekt hat, dann ist es die Möglichkeit, ausgiebig mit meinen Söhnen zu spielen… wenn auch nur zuhause. Ansonsten bin ich natürlich sehr frustriert wegen „Antikrist“, aber je nach Verlauf der Krise gibt es noch Hoffnung auf eine verspätete Premiere vor dem Sommer… Das Schlimmste an der Sache finde ich persönlich die Ungewissheit, das macht mir schon bange. Dabei geht es mir ja im Vergleich zu abertausenden selbstständigen Musiker*innen gut! Geduld haben, das ist wohl das Gebot der Stunde. Auf dem Schreibtisch liegen jedenfalls viele wunderbare Partituren für die nächste und übernächste Spielzeit.

Wie geht es Ihnen damit? Wie ist die Situation in Hannover, Straßen leer und Stimmung gedrückt?

Achim Riehn:
Die Stimmung hier ist seltsam. Alle versuchen, irgendwie Normalität aufrecht zu halten. Mir selbst geht es emotional nicht gut, ich muss diese Vollbremsung des Lebens erst einmal verdauen. Ich bemerke, wie sehr ich Kultur vermisse. Ich habe Sorge, dass viele Kleinbetriebe und Selbstständige das nicht überstehen werden. Das betrifft ja auch freiberufliche Künstlerinnen und Künstler. Wir haben Karten für Veranstaltungen und Konzerte, die jetzt ausfallen. Das Geld fordern wir nicht zurück.

Zum Glück gibt es viele CDs hier zuhause, die ich hören kann. Auch der „Antikrist“ von Rued Langgaard ist dabei. Ich finde es wirklich schade, dass dieses außergewöhnliche Stück nun wohl ausfällt. Die Hoffnung gebe ich nicht auf – wird das vielleicht in die nächste oder übernächste Saison geschoben? Wahrscheinlich sind ja überall an den Opernhäusern Umplanungen im Gange.

Stephan Zilias:
Es gibt die Hoffnung, den „Antikrist“ tatsächlich noch vor dem Sommer zu spielen, allerdings glaube ich da persönlich nicht dran. Die komplette Neuproduktion „Pique Dame“ ist abgesagt, somit würden wieder einige Probentermine frei werden. Aber niemand kann sich festlegen, natürlich nicht. Ich hoffe sehr, dass wir im Sommer wenigstens nach Savonlinna reisen können, dort dirigiere ich Carmen, meine Frau ist als Pianistin beim Festival engagiert. Das sollte eine echte Familienaktion werden… Aber all dies sind ja Luxusprobleme, verglichen mit den existenziellen Notsituationen, die schon jetzt so viele Menschen betreffen. Immerhin haben wir einen Kitaplatz in Hannover bekommen, Haus ist auch in Aussicht…

Ich bin mal gespannt, ob diese Krise wirklich die Gesellschaft nachhaltig prägen oder gar verändern wird.

Achim Riehn:
Die Gesellschaft wird sich verändern, ob zum Guten oder zum Schlechten wird die Zukunft zeigen. Ich bleibe Optimist, bin mir aber nicht sicher, ob das eine realistische Einstellung ist. Viele Probleme aus der Zeit vor der Krise kommen mir jetzt irgendwie unwichtig vor.

Für die „Pique Dame“ habe ich auch schon Karten, zu schade. Für das Festival in Savonlinna drücke ich die Daumen! Hoffen wir mal, dass wir bald überhaupt wieder Aufführungen haben werden, welche auch immer. Im Netz ist Oper irgendwie nicht das Wahre. Aber Musik ist eine Stütze in dieser Zeit. Für mich ist es so etwas wie schwarzer Humor des Schicksals, dass ich als letztes Musikstück im Opernhaus vor der Schließung ausgerechnet „Get out of my House“ (Kate Bush) gehört habe.

Ich habe gelesen, dass Sie schon als Kind die klassische Musik entdeckt haben und dass Ihr Schlüsselerlebnis als Zehnjähriger der „Wozzeck“ von Alban Berg war. Das kommt mir doch außerordentlich vor. Mein Erweckungserlebnis war die 9. Sinfonie von Dvorak, also ein viel gängigeres Stück. Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen fast schockierenden Moment. Was hat Sie an dieser Musik von Berg so fasziniert? Was hat das bei Ihnen ausgelöst? Bemerken Sie auch bei Ihren Kindern Interesse an Musik?

Stephan Zilias:
„Wozzeck“ finde ich auch nach wie vor eine absolut perfekte Oper. Musik, Dramaturgie, Libretto bzw die Einrichtung des Theaterstücks, alles ergibt eine totale Einheit und funktioniert auf allen Ebenen. Mich hat damals als Junge die Wucht des Stücks einfach völlig umgehauen, und das hat sich bis zum heutigen Tage auch gar nicht verändert. Mir gehen die Figuren Wozzeck, Marie und ihr Kind nach wie vor so nahe als wäre es das erste Mal. Dabei hatte ich das Glück, dieses Stück schon in zwei verschiedenen Inszenierungen mehrmals dirigieren zu dürfen. Dazwischen lagen geschätzte sieben Jahre, ich habe die Partitur wieder ganz von vorn gelernt und habe noch unendlich viel mehr entdeckt als beim ersten Mal. Wenn mir der Titel wieder begegnet (das hoffe ich doch!), wird es wieder so sein. Interessanterweise kenne ich noch einige Dirigentenkollegen, für die „Wozzeck“ ähnlich wichtig war in jungen Jahren!

Dvoraks 9. Sinfonie ist übrigens ähnlich, auch dieses Stück „kenne“ ich seit Kindesbeinen an, ich liebe es sehr. Obwohl es wie manch anderer „Evergreen“ fast ein Opfer der eigenen Popularität geworden ist.

Ich fürchte übrigens, dass sich unsere Gesellschaft auch nach der Krise nicht wesentlich zum Guten verbessern wird… normalerweise bin ich auch ziemlich unerschütterlich optimistisch, aber im Moment wird das auf eine ziemlich harte Probe gestellt…

Achim Riehn:
In der augenblicklichen Situation zeigt sich, was in den Menschen steckt. Das Soziale und das Asoziale in ihnen wird sichtbar. Alban Berg macht das in „Wozzeck“ auch mit seinen Personen, wenn ich so darüber nachdenke. Ich habe die Oper noch nie live gesehen, das wird sich hoffentlich bald mal ergeben.

Ihre Ausbildung ist von ganz verschiedenen Einflüssen gekennzeichnet. Sie haben Klavier und Dirigieren in Köln, Düsseldorf und London studiert. Dazu kamen Meisterkurse unter anderem bei Bernard Haitink. Noch während der Studienzeit arbeiteten Sie als Dirigent und musikalischer Assistent von Markus Stenz an der Oper Köln und debütierten 2011 dort mit – natürlich – „Wozzeck“. Als Assistent arbeiteten sie unter anderem unter Edward Gardner, Thomas Hengelbrock und Stefano Montanari. Das sind ganz unterschiedliche Einflüsse. Was war davon besonders prägend, auch in der Arbeitsweise? Hat dies alles dazu beigetragen, dass Ihre musikalischen Interessen weit gestreut sind?

Stephan Zilias:
Alle musikalischen Eindrücke, die ich während meines Studiums gesammelt habe, prägen mich bis heute. Neben den genannten Dirigentenpersönlichkeiten waren das vor allem auch Kammermusiklehrer wie die Musiker des Faurè Quartetts und meine Klavierlehrer Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich. Ich denke, man muss als Musiker einfach so viel wie möglich hören, sehen, erleben, diskutieren, eigene Urteile fällen, um dann auch einen eigenen Weg zu beschreiten. Besonders schön ist es dann, wenn man sich nach einigen Jahren wiedertrifft. Markus Stenz war im November bei uns an der Deutschen Oper Berlin für „Death in Venice“, ein wunderbares Wiedersehen und erneutes Zusammenarbeiten. Als Dirigent kann man nicht alles gleich gut können, deshalb sind natürlich Vergleiche sehr interessant. Jede/Jeder hat seine Spezialdisziplinen und individuellen Stärken, das ist ein bisschen wie beim Zehnkampf.

Und da ich diese Frage das letzte Mal überlesen hatte: Ja, natürlich bemerken wir bei unseren Kindern Interesse an Musik. Sie haben da ehrlich gesagt auch keine große Wahl :-). Denn bei uns liegen eben überall Noten herum, wir hören auch viel Musik zuhause. Wir singen und tanzen mit den Jungs, aber wir werden sie nie dazu zwingen, Musik zu machen. Dieser Wunsch muss selbst aus ihnen heraus kommen.

Achim Riehn:
Kinder finden selbst die Dinge, die sie begeistern. Kinder zu etwas zwingen, das funktioniert nicht auf Dauer. Aber ich bin froh, dass mir in meinem Elternhaus unterschiedlichste Anreize gegeben wurden, das weiß ich bis heute zu schätzen.

Die Dirigentenarbeit mit einem Zehnkampf zu vergleichen – das gefällt mir. Ich habe sie als Dirigent hier in Hannover im Sinfoniekonzert und bei der „Salome“ erlebt. Das hatte die Eleganz von Stabhochsprung, aber auch die Durchsetzungskraft wie beim Kugelstoßen.

Sie haben im Januar die zweite Sinfonie von Schumann dirigiert, die ich selten so klar und durchsichtig gehört habe. Es war nichts von einer Schumann nachgesagten „schwerfälligen Instrumentierung“ zu spüren. Auch bei der „Salome“ habe ich die Transparenz bewundert. Lieben Sie Klarheit, Durchhörbarkeit und Transparenz? Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie und das Orchester ein Stück erarbeiten und interpretieren?

Stephan Zilias:
Durchhörbarkeit ist mir extrem wichtig, gerade bei Stücken, die so kontrapunktisch sind wie Schumann. Aber auch Strauss wollte, dass man Salome und Elektra „wie Mendelssohn spielt – Elfenmusik“. Man muss dafür sorgen, dass die musikalische Textur vom Partiturbild in einen erfahrbaren Klang transformiert wird. Das heißt aber auch, dass man sehr stark dynamische Ebenen herausarbeiten muss, unterscheiden, was in jedem Moment wichtig und weniger wichtig ist (Vorsicht, schlechte Formulierung, denn wichtig ist bei guten Komponisten ja alles. Besser: Vorder- und Hintergrund.) Es entsteht im Idealfall ein „dreidimensionaler“ Klang. Diesen herzustellen ist immer ganz zentraler Teil der Probenarbeit. Man muss den Musikern*innen eine Perspektive geben: wohin gehört meine Stimme in diesem Moment? Mit wem spiele ich zusammen? Auf wen muss ich hören? Und wie passt meine Stimme ins Gesamtgefüge des Orchesters.

Es freut mich, dass sich die Arbeit bei Strauss und Schumann offenbar gelohnt hat :-).

Wie geht’s in Hannover?

Achim Riehn:
Hannover verhält sich diszipliniert und ist recht gelassen. Das Einkaufen in den Supermärkten funktioniert schon sehr geordnet nach den neuen Abstandsregeln. Die Straßen sind leer und der Himmel ist so unglaublich blau und rein! Keine Kondensstreifen weit und breit. Ich glaube, für Berlin ist das schwieriger als für Hannover – wir hier sind zu arbeitsam für dauernde Party.

Ich habe sowohl bei dem Konzert als auch bei der Salome gedacht „Wie schön, ich höre ALLES!“. Solche Transparenz würde ich mir für Opern von Richard Wagner wünschen. Wagners Musik wird mir zu oft als kraftmeierische Überwältigungsmusik dargeboten. Unter Ihrem Dirigat könnte ich Wagner vielleicht genießen. In Ihrer Repertoireliste habe ich nur „Tristan und Isolde“ gefunden. Ist vielleicht auch mal der „Ring“ drin?

Noch etwas habe ich über sie gelesen, was ich sehr interessant fand. Ihre Arbeitsweise zeichnet sich danach aus als „Mischung aus akribischer Arbeit und einem Enthusiasmus gerade für schwierige, komplexe Musiktheaterwerke“. Charakterisiert das Ihr Verständnis von Arbeit, ist das Ihre Herangehensweise? Schätzen Sie das Durchleuchten des Komplexen?

Stephan Zilias:
Ha, woher haben Sie dieses Zitat? Komplexe Dinge auseinander zu nehmen und sie dann wieder zusammen zu führen macht mir natürlich Spaß. Aber ich würde mich jetzt nicht darauf abonnieren lassen. Bekannte und/oder weniger komplexe Stücke sind ja nicht „leichter“. Die Frage ist sowieso, gibt es sowas wie „leichte Werke“? Ich glaube nicht… Oft sind es gerade die Stücke, bei denen nicht viel in den Noten steht und die technisch nicht so anspruchsvoll sind, die musikalisch am schwersten zu gestalten sind.

Bezüglich Wagner: Nächstes Jahr mache ich an der Deutschen Oper „Rienzi“, das wird dann Nummer 2 :-). Versprochen, da werden einige Titel folgen. Vor dem Sommer assistiere ich Donald Runnicles noch bei „Rheingold“ in Herheims neuer Ring-Deutung, da freue ich mich wahnsinnig drauf.

Achim Riehn:
Das Zitat ist aus einem Bericht über Sie von der Webseite Die-Deutsche-Bühne.

Ich glaube, es ist ein sehr wahrer Satz, dass weniger komplexe Werke nicht grundsätzlich einfacher sind. Klare Strukturen müssen ja zum Leuchten gebracht werden – mit Nachlässigkeit ist das nicht zu schaffen. Ich glaube auch, dass es dem aufmerksamen Zuhörer dann sofort auffällt. Es reißt nicht mit. Ich bin wirklich auf Wagner unter Ihrem Dirigat gespannt und wie „leicht“ er klingen wird.

Beim Konzert hatte ich den Eindruck, dass zwischen Ihnen und dem Orchester Einklang da war, dass das Feuer der Begeisterung auf beiden Seiten brannte – verzeihen Sie diese etwas pathetische Ausdrucksweise. Stimmt der Eindruck?

Stephan Zilias:
Ah, doch, diesen Artikel hatte ich gelesen. Etwas zu viel der Vorschusslorbeeren, fürchte ich!

Klar, zwischen dem Orchester und mir hat es „geklappt“, sonst hätte ich den Job auch nicht angeboten bekommen bzw. ihn auch nicht gewollt. Solche gemeinsamen Konzerterlebnisse sind unheimlich wichtig, denn sie schweißen zusammen und schaffen eine Vertrauensbasis. Ich hoffe, dass wir durch die weitere Zusammenarbeit das Fundament weiter ausbauen können; wir kennen uns jetzt ein wenig, aber bei Weitem noch nicht genug… und jetzt kommt der große Sohn, vorbei mit der Ruhe :-).

Achim Riehn:
Das Niedersächsische Staatsorchester mag es glaube ich, gefordert zu werden!

Die nächste Saison an der Staatsoper Hannover ist schon geplant. Wir alle hoffen, dass sie auch stattfinden kann. An diesen Planungen waren Sie ja noch nicht beteiligt. Bleiben Ihnen genügend Möglichkeiten, sich in die nächste Saison einzubringen? Gibt es wegen der augenblicklichen Krise vielleicht Umplanungen? Nach konkreten Dingen frage ich ausdrücklich nicht, das ist ja noch nicht öffentlich.

Stephan Zilias:
Wir werden natürlich schauen müssen, wann wir die Probenarbeit wieder aufnehmen können. Davon hängt ab, inwieweit Umplanungen notwendig werden. Für die nächste Saison habe ich mich ins Konzertprogramm natürlich einbringen können, bei der Oper nicht, da braucht es natürlich immer einen längeren Vorlauf. Ich hoffe jetzt wie alle Menschen, dass wir diese Krise bald durchstehen, um irgendwann wieder so etwas wie „Alltag“ zu erleben…. Im Übrigen ist meine Erfahrung, dass eigentlich jedes Orchester gefördert und gefordert werden will! Langeweile ist das Schlimmste!

Achim Riehn:
Langeweile führt zu Erstarrung. Das ist nie eine gute Grundlage für etwas Produktives und für etwas Begeisterndes, da stimme ich völlig zu.

Fünf Tage lang tauschen wir nun Messages aus, während draußen die Welt stillsteht. Heute brachte die Post ein Paket von einem guten Freund: Toilettenpapier und Süßigkeiten. Ich hatte ihm gegenüber in einem Chat erwähnt, dass hier auch bei mehreren Versuchen kein Toilettenpapier zu finden war. Ich habe mich riesig darüber gefreut. Unglaublich, dass ich so etwas schreiben muss, es sind schon besondere Zeiten. Wie ist die Lage in Berlin?

Wieder zur Musik, meinem (und Ihrem?) Rettungsanker. Für Ihre Zeit hier an der Staatsoper Hannover haben Sie sich bestimmt schon Vorstellungen gemacht. Sie haben eine Vision im Kopf, sie haben schon einen Eindruck von den Menschen, mit denen sie arbeiten werden. Können Sie darüber etwas erzählen?

Stephan Zilias:
Die Situation in Berlin ist augenscheinlich einigermaßen entspannt, ein paar wenigen Sachen im Supermarkt gibt es halt kaum bis gar nicht, aber wir sind trotzdem gut versorgt. Die Straßen sind leer, viel leerer als sonst, dennoch nicht ausgestorben. Sicher liegt’s am tollen Wetter… eine etwas seltsame Diskrepanz zur düsteren Lage der Welt.

Musik ist immer ein Rettungsanker! Meine Familie und Musik, viel mehr brauche ich im Grunde nicht. Oder anders: ohne sie könnte ich nicht leben.
Klar, Visionen habe ich sicherlich, auch mein zukünftiges Team kenne ich zu großen Teilen. Wir sind natürlich ständig in virtuellem Kontakt, es gibt viele Anrufe und Video-Chats. Ich habe das Gefühl, dass es auch menschlich sehr gut passen wird, es gibt nicht nur mit Laura Berman viele ästhetische Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen. Grundsätzlich einig sind wir uns alle, dass Musik/Theater/Kunst im Allgemeinen zur Diskussion anregen soll, eine starke soziale und gesellschaftliche Relevanz hat bzw.haben muss. Der Job des GMD ist ja eine öffentliche Position, die sich nicht im Theater verkriechen darf. Es wird Zeit brauchen, bis aus „Visionen“ – ein tolles Wort, aber auch gefährlich beladen:) – konkrete Umsetzung wird… aber Pläne gibt es. Hoffen wir, dass uns Corona nicht in derartige Probleme stößt, dass wir alles runterfahren müssen!! Jetzt schnell Kartoffeln schälen und schlafen, 6.30 h geht’s morgen wieder weiter mit Kinderprogramm :-). Bis bald, bleiben Sie gesund!!

Achim Riehn:
Ihr Kinderprogramm ist ja noch besser als mein Morgenprogramm! Beim Frühstück schaue ich gerade den Eichhörnchen zu, die durch die Bäume auf dem benachbarten Friedhof toben.

Dass Kunst und damit auch Musik uns etwas zu sagen haben muss, das teile ich. Die Trennung zwischen E- und U-Musik definiert sich für mich genau an dieser Feststellung. E-Musik ist die, die mir etwas sagt, was für mein Leben wichtig ist. Diese Saison an der Oper Hannover war voll von solchen Werken, die zum Nachdenken angeregt haben, angefangen bei „La Juive“. „The Greek Passion“ von Martinu habe ich mir nun als Aufnahme zugelegt und habe für die GFO-Seite einen Text darüber geschrieben, „Nixon in China“ ist gerade so in Arbeit (ich hole mir die Saison ins Zimmer). Der Umgang mit Fremden, mit Vertreibung, mit Toleranz, mit Macht und Machtmissbrauch – relevanter können Themen kaum sein.

Werke mit Aussage gibt es in allen Epochen und in allen musikalischen Stilrichtungen. Wenn ich mir die Werke so anschaue, die sie dirigiert haben, dann scheinen sie keine Repertoiregrenzen zu kennen. Es gibt ungewöhnliche Kombinationen wie im Sinfoniekonzert im Januar an der Staatsoper Hannover mit Dutilleux, Bartoks Violinkonzert und Schumanns 2. Sinfonie. Sie haben in der vergangenen Spielzeit an der Deutschen Oper Detlev Glanerts neue Oper „Oceane“ dirigiert, „Echnaton“ von Philip Glass ist in Ihrem Repertoire. Daneben haben Sie Klassiker von Mozart bis Verdi aufgeführt. Lieben Sie diese Mischung, diesen weiten Blick? Unsere Intendantin Laura Berman scheint das ja auch zu lieben.

Stephan Zilias:
Ja, auf jeden Fall liegt mir die Vielfalt des Repertoires sehr am Herzen. Wenn man als junger Kapellmeister an ein Haus kommt, muss man ja fast alles betreuen, was so auf dem Spielplan steht. Allein in meinen ersten beiden Berufsjahren im Festengagement (Mainz) war zwischen Händel Rinaldo und einem Lachenmann/Sciarrino-Abend alles dabei – wunderbar! Mein musikalisches Interesse ist auf jeden Fall sehr weit gestreut, ich habe aber natürlich mit gewissen Stilen/Epochen mehr Erfahrung als mit anderen.

In Hannover wird es auf jeden Fall auch im Konzertbetrieb „die Klassiker“ geben, aber immer in Kontrast und dem Gegenlicht aus anderen musikalischen Richtungen. Das ist mir sehr wichtig.

Achim Riehn:
Ich glaube von Laura Berman stammt die Feststellung, dass einem Großteil des heutigen Publikums auch das sogenannte Kernrepertoire nicht mehr bekannt ist und dass es daher weniger Scheu vor unbekannten Opern (und unbekannter Musik im Allgemeinen) gibt. Alles ist ja neu. Wie ist Ihre Erfahrung?

Zu den wenig bekannten Opern: War der „Antikrist“ von Langgaard an der Deutschen Oper Ihre Wahl? Oder war das etwas ganz Neues für Sie? Wie ist der Prozeß an einem Opernhaus, der zur Inszenierung eines so seltenen Werks führt? Ich war begeistert davon, dass diese Oper endlich mal auf einen Spielplan gekommen ist. Nebenbei bemerkt – von Langgaard gibt es auch sehr originelle Sinfonien (ich habe die alle in meiner Sammlung).

Stephan Zilias:
Ich denke, dass man heutzutage aus fast allem einen „Publikumserfolg“ machen kann, vor allem in der Oper. Meistens hab ich das nicht kommen sehen, ich erinnere mich z.B daran, dass „Echnaton“ in Bonn ein großer Erfolg war mit vielen gut besuchten Vorstellungen, aber ein Evergreen wie „La Boheme“ gar nicht lief, ebenso wenig wie der neue „Wozzeck“ an der Deutschen Oper Berlin. Es kommt dann doch auch sehr auf Kritiken bzw. Mundpropaganda an.

Dass der „Antikrist“ auf den Spielplan kam, ist nicht mein Verdienst gewesen. In Berlin habe ich bei Entscheidungen dieser Tragweite keinen Einfluss, in Hannover dann ab den zukünftigen Spielzeiten schon (wie gesagt, noch nicht ab der nächsten). Spielplanentscheidungen sind sehr komplex, sie entstehen im Spannungsfeld von dramaturgischen Überlegungen, Möglichkeiten bzw. besonderen Merkmalen des Hauses und der Stadt, ästhetischen Vorlieben der Theaterleitung, manchmal sind es natürlich auch Wunschstücke von Regieteams oder Dirigenten. Es ist in der Oper wie so vieles eben Teamwork, wobei natürlich die Intendanz letztlich entscheidet. Aber ich werde in Hannover das erste Mal in einer Lage sein, den Spielplan selbst beeinflussen zu können, stellen Sie mir diese Frage dann deshalb in ein paar Jahren nochmal :-).

Langgaards Sinfonien kenne ich zum großen Teil, wahnsinnig unterschiedlich stilistisch, nicht alles finde ich so gut wie den Antikrist. Die 6. Sinfonie bedient sich zu ganz großen Teilen aus Material von „Antikrist“, das wirkt fast wie eine symphonische Skizze. Grandios finde ich „Sphärenmusik“, das werde ich bestimmt mal irgendwann aufführen! Alles in allem war die Begegnung mit Langgaards Musik eine echte Entdeckung für mich… und ich hoffe inständig, dass unser „Antikrist“ nochmal zur Aufführung kommen wird, in dieser Spielzeit oder irgendwann in der Zukunft!

Achim Riehn:
Bei der Frage nach dem Einfluss auf den Spielplan nehme ich Sie beim Wort und werde später nachfragen :-).

Die „Sphärenmusik“ gehört zu meinen Lieblingsstücken. Leider habe ich sie bisher nur ein einziges Mal live gehört, das war damals in einem Konzert auf der EXPO in Hannover. Das wieder zu hören wäre eine echte Freude.

Ich persönlich liebe eine Mischung aus Repertoireklassikern und Entdeckungen. Es gibt so viel Geniales, das kaum bekannt ist. Ich war zum Beispiel im letzten Jahr von Alberic Magnards „Guercoeur“ in Osnabrück so begeistert wie bisher selten von einer Oper. Das hat mich wirklich umgehauen: ein Klangwunder, welches das Publikum begeistert hat und für ein ausverkauftes Haus gesorgt hat. Haben Sie ein paar unbekannte Werke im Kopf, die Sie zu gern mal dirigieren würden? „Guercoeur“ lege ich Ihnen auf jeden Fall ans Herz.

Und diese Frage darf natürlich in diesem Zusammenhang nicht fehlen: Haben Sie Lieblingskomponisten, in der Oper und in der Konzertmusik? Werden Sie da Schwerpunkte setzen?

Stephan Zilias:
Also, ich habe einige besondere „Herzensstücke“, an die ich mich aber erstmal noch nicht heranwagen werde… da ist der Respekt einfach riesig. Dazu gehört Schubert 9 (musikalisch einfach unglaublich schwer zu gestalten), Mahler 9, Brahms 4, Missa solemnis etc… Im Opernbereich wären zu nennen Idomeneo, Fidelio, Otello, Fanciulla del West, Trittico, Elektra, vielleicht Frau ohne Schatten, vielleicht irgendwann einmal der Ring, Parsifal, Lulu, vieles von Janacek, Krol Roger, Die Soldaten… das nur einfach mal so ein Brainstorm „ins Blaue“ hinein, ohne konkrete Hintergedanken. Was die Mischung aus Repertoireklassikern und Entdeckungen betrifft: Das sehe ich ganz genauso, und hoffentlich werden Sie dann bei der Programmierung meiner Sinfoniekonzerte nächste Saison schon eine derartige „Handschrift“ erkennen. „Guercoeur“ habe ich mir mittlerweile in Auszügen auf Ihren Hinweis hin angehört, ganz toll und mir bis dato wirklich vollkommen unbekannt. Ich fürchte nur, es wird etwas seltsam sein, wenn nach der Osnabrücker Entdeckung ein Haus in erweiterter Nachbarschaft im selben Bundesland das Stück wieder ausgräbt :-).

Chapeau für Ihre Repertoirekenntnis, sind Sie denn von Berufswegen Musiker?

Achim Riehn:
Ach, machen Sie sich keine Sorgen – seltsam ist voll okay, wenn es gut ist! Mit Ihren ins Blaue hineingesagten Wunschstücken kann ich mich sehr anfreunden. Da sind „Sahnestücke“ dabei, die ich zu gern mal hier in Hannover hören (und sehen) möchte. Die letzte „Frau ohne Schatten“ ist schon zu lange her, „Krol Roger“ wäre wunderbar – und Mahlers 9. Sinfonie ist sowieso ein Höhepunkt der Musik! „Oedipe“ von Enescu wäre auch mal ein Highlight. Ich muss mit dem Nennen von Stücken aufhören, sonst wird die Begeisterung zu groß :-).

Apropos Begeisterung: Musik ist einfach nur eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Studiert habe ich Astrophysik, dann bin ich in die Informatik gegangen. Viele Naturwissenschaftler lieben Musik, vielleicht passt das im Kopf zusammen.

Ich möchte die Themen „Ausweitung des Repertoires“ und „Niederreißen von Repertoiregrenzen“ noch etwas vertiefen. Das Programm Ihres Sinfoniekonzerts hier war eine weitgespannte Mischung, im ersten Sinfoniekonzert der Saison gab es Musik von Frank Zappa, Marco Goeckes Ballett „Kiss a Crow“ setzte Musik von Kate Bush um. Beim Publikum ist das erfreulicherweise sehr gut angekommen.

Können wir von Ihnen ähnlich Überraschendes erwarten? Kate Bush zum Beispiel hat ungewöhnlich komplexe Musik komponiert, darunter gibt es ganze Songzyklen von teilweise 40 Minuten Länge wie den Zyklus „A Sky of Honey“ vom Doppelalbum „Aerial“. Beim Hören dieser Musik denke ich oft „Wie spannend wäre das in einer Übertragung für Sinfonieorchester!“. Mit so etwas könnte man neues Publikum ins Opernhaus locken. Haben Sie ähnliche Ideen oder Pläne?

Grüße vom Mittagstisch: Grünkohl! [Hier durfte das entsprechende Beweisfoto natürlich nicht fehlen.]

Stephan Zilias:
Sie sind also nicht nur Astrophysiker, Informatiker, Musik-Conaisseur sondern auch Sternekoch, Respekt! Lustigerweise koche ich auch wahnsinnig gerne, aber nur wenn ich echt Zeit habe… heißt: momentan sehr oft :-). Ich kann aber absolut nur nach Rezept kochen, improvisieren kann ich in der Küche überhaupt nicht!

Bezüglich Kate Bush: es gibt einige avancierte Rock/Popmusik, die ich mag. Radiohead hab ich zum Beispiel sehr viel gehört. Konkrete Pläne dieser Art habe ich zu Beginn in Hannover nicht, aber die Suche nach neuen Formaten/Spielorten etc. steht mittelfristig auf jeden Fall auf der Agenda, dazu muss natürlich auch passendes Repertoire gefunden werden.

Bei Crossover finde ich sehr oft das Arrangement das eigentlich Entscheidende. Wenn man da wirklich gute und fantasievolle Arrangeure/Komponisten dransetzt, kann das gut werden. Wenn Crossover schlecht ist, also beliebig oder anbiedernd, finde ich es sehr schlimm.

Achim Riehn:
Ein Astrophysiker ist ja von Berufs wegen so etwas wie ein Sternekoch (sorry – so einen Kalauer kann ich mir nicht entgehen lassen!). Aber um einen anderen Spruch abzuwandeln: Kochen und Musik halten Leib und Seele zusammen! Ich löchere Sie ganz schön mit Fragen – ich hoffe, das ist noch erträglich :-). Aber wir sind bald durch!

Crossover ist eine sehr sensible Angelegenheit – Zustimmung. Das Arrangement ist das Entscheidende. Ich bin darauf gekommen, weil Sinfoniekonzerte für „Neulinge“ manchmal eine eher trockene Angelegenheit sind. Überspitzt gesagt: Drei Klassiker, braves Publikum, Beifall – und nur wenige Menschen im Publikum denken über das Programm nach. Für mich ist das inzwischen aus der Zeit gefallen. Wie werden Sie Konzerte gestalten? Gibt es neue Wege, dem Publikum einen Zugang zur Musik zu geben?

Meine nächste Frage ist vielleicht etwas provokant, aber sie passt gut dazu (und liegt mir schon lange auf der Seele). Müssen im Konzert alle auf der Bühne im tristen und steifen Schwarz herumsitzen? Ich würde mir mehr Auflockerung, mehr Farbe wünschen. Auf ein jüngeres Publikum wirkt es wie gehabt vielleicht merkwürdig und anachronistisch. Sind sie da eher konservativ oder stehen sie solchen Ideen aufgeschlossen gegenüber? Denn auch die „herkömmliche“ feierliche Atmosphäre hat ja was, ich gebe das zu.

Stephan Zilias:
Ha, den Kalauer fand ich ehrlich gesagt ziemlich gut! Haben Sie den schon oft zum Besten gegeben?

Was die Programmfrage betrifft: natürlich gestalten wir die Setzung Ouvertüre, Solokonzert, Sinfonie flexibel. Einige Konzerte haben viel mehr Stücke, einige nur ein einziges, manche kommen ganz ohne Solisten aus, ein anderes kombiniert zwei Kunstgattungen (sorry, spezifischer darf ich nicht werden). Es wird für jeden etwas dabei sein, ohne dass man beliebig wird. In meiner Erfahrung bekommt man über persönlichen Einsatz z.B. in Schulen etc ziemlich gut Anschluss an neue Publikumsschichten. Präsenz ist einfach das A und O, das ist sehr viel Arbeit, aber auch der beste Weg. Ich hoffe, dass bis zum Sommer dann das gesellschaftliche Leben wieder genug Fahrt aufgenommen haben wird…

Bezüglich Kleidung: das finde ich verhältnismäßig nicht so entscheidend, solange es für das Publikum keinen merkwürdigen Kleidungszwang gibt. Als Musiker finde ich es für mich persönlich sehr wichtig, Konzerte oder Opernvorstellungen eben nicht in Alltagskleidung zu spielen, man will ja auch in der Musik keinen Alltag ausdrücken, sondern sucht nach dem Besonderen. Sicherlich passt eine schwarze Krawatte nicht sonderlich gut zu einem festlich-frohen Weihnachtskonzert, man würde auch keine „abgefahrene“ Neue Musik in einem Garagenkonzert im Frack spielen. Es muss zum Anlass passen… aber nageln Sie mich darauf nicht fest, Mode gehört nun wahrlich nicht zu den Gebieten, in denen ich mich besonders gut auskenne :-).

Ich habe gelesen, in Niedersachsen bleiben Schulen/Kitas eventuell bis Sommer zu?? Das wäre für die Familien eine unglaubliche Last…

Achim Riehn:
Der Kalauer war eine spontane Eingebung!

Niemand kann jetzt wohl genau sagen, wie es mit den Schulen usw. weitergeht. Jetzt scheint ja die Kurve der Neuinfektionen etwas abzuflachen, in den nächsten zwei Wochen muss man das dann beurteilen. Jede weitere Woche Isolation bedeutet natürlich eine weitere Woche Belastung für alle und alles. Ich versuche in den letzten Tagen, das aus meinem Bewusstsein auszublenden. Es bringt nichts, unablässig wie gebannt auf die heranrollende Welle des Tsunami zu schauen.

Was sie zu den Konzerten sagen, klingt spannend. In der letzten Zeit habe ich bemerkt, dass der Anteil jüngerer Menschen im Publikum an der Staatsoper Hannover zugelegt hat. Dazu hat wohl auch beigetragen, Restkarten an Studenten zu geben. So abwechslungsreiche Programme wie von Ihnen angedeutet locken auch neues Publikum. Haben Sie Ideen oder Pläne, wie man diesen Anteil junger Menschen weiter voranbringen könnte? Das Hereingehen in Schulen hatten Sie ja schon erwähnt. Wie kann man darüber hinaus potenziell interessierte Menschen „heranlocken“?

Ein schönes Ziel wäre, die Oper als Zentrum des kulturellen Lebens aller Generationen dieser Stadt zu etablieren. Konzerte und Opern könnten ja auch an anderen Orten als den herkömmlichen Orten gespielt werden. Das würde auch für mehr Offenheit sorgen. Haben Sie da schon konkrete Ideen für unsere Oper der Zukunft?

Stephan Zilias:
Ja, wir haben ganz konkret vor, neue Veranstaltungsorte zu suchen, das Brainstorming hat schon angefangen, ein paar „Locations“ stehen schon auf der Liste. Man müsste das alles natürlich vor Ort begutachten, um die Atmosphäre mitzubekommen… all das war für diesen Monat geplant (an der Deutschen Oper habe ich mir theoretisch einen Monat frei genommen nach der Antikrist-Premiere… aber das sind ja Planungen aus einer anderen Zeit), die Intensivierung der Raumsuche wird also warten müssen. Grundsätzlich muss man halt schauen, dass Location und Programm der neuen Reihen zusammen passen, im Idealfall befruchten sich Raumatmosphäre und gespielte Musik gegenseitig. Ich einige mich mit Ihnen, das würde sicherlich auch andere Zuhörer anlocken als das „gesetzte“ Abo-Publikum. Ich denke, da geschieht aber sowieso unter Bermans Aufsicht sehr viel, was Jugend- und „Outreach“-Projektarbeit angeht. Ein Konzert in einem Teleskop oder einer Sternenwarte wäre z. B. irre… gibt es sowas in Hannover oder Umgebung? Sie sehen, Ihr Astrophysik-Studium hat mich nachhaltig beeindruckt :-)!

Ich hoffe, Sie hatten es auch so strahlend sonnig heute?

Achim Riehn:
Als Sternwarte kenne ich nur eine kleine auf dem Dach des historischen Wasserbehälters auf dem Lindener Berg. Aber ich bin überfragt, ob da so etwas wie ein Konzert möglich wäre. Das darf ich jetzt fast nicht sagen, dass ich etwas über die Stadt nicht weiß :-). Als schöne Location fallen mir die Hallen auf dem Faust-Gelände ein. Das ist eine alte Bettfedernfabrik, die auch jetzt schon für (nichtklassische) Konzerte genutzt wird.

Dem hannoverschen Publikum wird so etwas gefallen. Es ist zuerst zwar etwas zurückhaltend, die Haltung ist meist ein „schauen wir erst einmal“. Es ist aber durchaus tiefgreifend zu begeistern.

Und da ich neugierig bin noch eine letzte Frage: In welchem Stadtteil haben Sie das Haus für Ihre Familie gefunden? Grün und zentral ist hier ja kein Gegensatz. Ich hoffe, trotz der augenblicklichen Situation kommt das voran!

Das Wetter war auch hier toll heute. Ich habe etwas außerhalb der Stadt einen langen Spaziergang gemacht. Alle Spaziergänger haben die Abstandsregeln eingehalten, ganz vorbildlich. Hier ein paar Bilder – man kann hier richtig die Natur, die ersten Mittelgebirge und die Weite genießen. [Es folgten ein paar Bilder von Vörier Berg.]

Stephan Zilias:
Ohja, das sieht wunderbar aus! Hier war es ähnlich, wir haben einen Doppel-Fahrradanhänger gekauft, in den wir den Nachwuchs stecken, das war eine fantastische Investition!

Danke für den Tipp bezüglich der Hallen auf dem Faustgelände! Unser zukünftiges Haus steht in Bemerode, die zukünftige Kita und die U-Bahn sind nur einen Steinwurf entfernt. Sehr nette Ecke, fanden wir.

Achim Riehn:
Bemerode ist ein angenehmes Pflaster – und das Grün am Kronsberg ist auch nicht weit.

Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses virtuelle Gespräch und dafür, dass Sie sich die Zeit und die Geduld für diese vielen Fragen genommen haben. Auf Ihre Antworten war ich jedesmal gespannt. Reden über Musik baut in diesen Zeiten wirklich auf.

Wir Musikfreunde hier freuen uns sehr darauf, sie hoffentlich bald live auf der Bühne, im Orchestergraben und im persönlichen Gespräch erleben zu können. Wenn Sie noch Fragen haben, zur GFO, zu Hannover, zu was auch immer – ich beantworte die gern!

Stephan Zilias:
Da komme ich garantiert drauf zurück! Ihnen auch ganz herzlichen Dank für Ihre Neugier und Ihre Anregungen. Hoffentlich dann bald auch mal ein Treffen „in persona“! Herzliche Grüße und bleiben Sie gesund!

Achim Riehn:
Alles Gute für Sie und Ihre Familie – bleiben Sie gesund!

So endete nach über zwei Wochen das, was als ganz normales Interview mit einem kommenden Generalmusikdirektor geplant war. Aus einem persönlichen Gespräch wurde ein Austausch von Messages, aus einem Frage-Antwort-Spiel wurde so etwas wie ein Dialog. Immer als Hintergrund war die Corona-Krise zu spüren, die Auswirkungen auf alles hat, auch auf den Kulturbetrieb. Hoffen wir, dass wir bald aus dieser Situation einigermaßen unbeschadet herauskommen! Und freuen wir uns jetzt schon auf das, was Stephan Zilias auf die Bühne bringen wird!

Achim Riehn

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