Opernraritäten #3: Albéric Magnard „Guercoeur“ – pure Magie, ein Klangwunder

Diese Oper ist eine echte Rarität und das ist unfassbar. Fast niemand kennt sie – man mag es nicht glauben, wenn man sie einmal gehört hat. „Guercoeur“ ist pure Magie, ein Klangwunder, sie schlägt einen in den Bann. Musik von großer Schönheit und ein tiefsinniges Libretto fügen sich zusammen zu einem Meisterwerk der Spätromantik.

Foto und Copyright: Achim Riehn

Es gibt von der Oper zum Glück eine Aufnahme aus dem Jahr 1986, die bei EMI erschienen ist. Es spielt das Orchestre National du Capitole de Toulouse unter der Leitung von Michel Plasson. Gesanglich ist diese Aufnahme mit u.a. Hildegard Behrens (als Vérité), José van Dam (als Guercoeur) und Nathalie Stutzmann (als Souffrance) eine Traumbesetzung.

Der Franzose Albéric Magnard stammte aus reichen Haus. Eigensinnig, eigenbrötlerisch, zurückgezogen – er war nicht darauf angewiesen, durch seine Musik Geld zu verdienen. Er komponierte die Oper auf ein eigenes Libretto zwischen 1897 und 1901. Zu seinen Lebzeiten gab es nur einige wenige konzertante Aufführungen von Teilen der Oper. Magnard kam 1914 zu Beginn des Weltkriegs bei der Verteidigung seines Hauses ums Leben. Mit ihm verbrannte ein Großteil seiner Werke, auch der erste und dritte Akt von „Guercoeur“. Diese beiden Akte konnten aber aus den zu den Aufführungen vorliegenden Unterlagen rekonstruiert werden. Im Jahr 1931 erlebte die Oper dann ihre vollständige Uraufführung, 1986 kam die Plattenaufnahme, das war es dann. Manchmal ist die Musikgeschichte einfach nicht nachzuvollziehen. Die zweite szenische Aufführung überhaupt wagte im Jahr 2019 das Theater Osnabrück. Die Inszenierung von Dirk Schmeding wurde zu einem bejubelten Triumph. Die Menschen verließen mit Tränen in den Augen die ausverkauften Vorstellungen, so ergriffen von der Musik und dem Geschehen. Mir ging es auch so.

Die Oper trägt den Untertitel „tragédie en musique“, ich würde sie als Mischung aus Oper, Oratorium und Mysterienspiel bezeichnen. Sie behandelt in symbolistischen Bildern das Thema des nicht erkannten Glücks und die Hilflosigkeit gegenüber dem Tod. Zugleich enthält sie aber auch psychologisch tief ausgeleuchtete Szenen zwischen einzelnen Personen und äußerst realistisch gezeichnete Massenszenen.

Der erste Akt der Oper spielt im Himmel. Der Freiheitskämpfer Guercour ist gestorben, kann sich mit seinem himmlischen Dasein aber nicht abfinden. Er sehnt sich zurück zu seiner Frau Giselle, seinem Freund und Schüler Heurtal und seinem Volk, dem er zur Freiheit verholfen hatte. Die anderen Seelen im Himmel können ihn nicht von seinem Sehnen abbringen. Schließlich werden die vier Göttinnen dieses ganz und gar unchristlichen Himmels auf ihn aufmerksam, Bonté (die Güte), Beauté (die Schönheit), Souffrance (das Leiden) und die oberste Göttin Vérité (die Wahrheit). Sie lassen sich erweichen, Vérité gibt ihm einen neuen Körper und schickt ihn auf die Erde zurück.

Im in drei Tableaus geteilten zweiten Akt muss Guercour erleben, dass sich die Welt seit seinem Tod verändert hat. Giselle hatte ihm zwar ewige Treue geschworen, ist nun aber mit Heurtal zusammen, was sie Guercoeur auch offen eingesteht. Die Welt hat sich weitergedreht, sie lebt nun ein Leben ohne ihn. Guercoeur verzeiht ihr traurig. Aber auch Heurtal hat sich verändert. Er tritt nicht mehr für die Demokratie ein, sondern will sich zum Diktator aufschwingen. Guercoeur stellt sich auf die Seite der Demokraten, wird aber in den aufflammenden Unruhen erneut getötet.

Im dritten Akt wird Guercoeur wieder im Himmel aufgenommen. Er bittet die Göttinnen um Verzeihung für seinen Hochmut. Vérité tröstet ihn damit, dass sich eines Tages sein Traum von Freiheit und Frieden auf der Erde erfüllen wird. Die vier Göttinnen schenken ihm ewigen Schlaf und Vergessen. Vérité schickt Souffrance zur Erde, um weiter ihre Mission zu erfüllen. Das letzte Wort der Oper, von einem unsichtbaren Chor gesungen, ist „Espoir“ (Hoffnung).

Die Musik der Oper ist von außerordentlicher Farbigkeit und großer Klarheit. Sie schimmert und strahlt. Magnard bekannte sich dazu, ein Verehrer der Prinzipien Richard Wagners zu sein. Die Musik ist aber ganz eigenständig. Leitmotive durchziehen die Oper und schaffen Verbindungen. Besonders markant ist das fast bedrohliche Motiv der Souffrance, das die Oper eröffnet und das immer wieder an zentralen Stellen auftaucht. Es fällt mir schwer, diese Musik zu beschreiben – sie ist zu individuell. Massenets Tonsprache ist manchmal ähnlich, aber süßlicher. Vielleicht trifft es aber das am besten: Wenn der Gustav Mahler der 9. Sinfonie eine Oper geschrieben hätte, dann hätte sie eventuell so ähnlich geklungen. Aber der zweite Akt ist viel expressionistischer als es Mahler jemals war. Alles ist so transparent, dass die Stimmen bestens zur Geltung kommen. Niemals ist die Instrumentation überladen, es herrscht eine fast klassische Durchhörbarkeit.

Die Oper besteht nur aus schönen und bewegenden Stellen, es fällt schwer, da eine Auswahl zu treffen. Ich will es aber versuchen.

Jeder der Akte sowie die Tableaus des zweiten Aktes werden mit Orchestervorspielen eingeleitet bzw. verbunden, die einen guten Eindruck in die Musiksprache Magnards geben. Die „Introduction symphonique“ des ersten Aktes ist ein typisches Beispiel. Sie beginnt wuchtig und bedrohlich mit dem Motiv der Souffrance. Die Musik ist schimmernd und klar, es öffnen sich (typisch für Magnard) ganz weite Räume in der Musik. Hochdramatische Aufschwünge wechseln sich mit weit geschwungenen Melodien ab. Unmittelbar anschließend setzt der Chor der himmlischen Stimmen ein: „Le temps n‘est plus, l‘espace n‘est plus“, ganz ohne instrumentale Begleitung. Das ist beschwörend, hymnisch, lobpreisend – ein Himmel nur aus Stimmen. Dreimal ruft Guercoeur sein „Vivre!“ hinein, mit jedesmal intensiverer Orchesterbegleitung. Das ist eine unglaublich kunstvolle Verschränkung aus Sakral- und Opernmusik.

In der 5. Szene des ersten Aktes „Quelle plainte a retenti?“ begegnet Guercoeur den vier Göttinnen und schildert ihnen sein Leid und seinen Wunsch nach Leben. Das ist ein bewegtes, romantisches, fast dramatisches „Gespräch“, voller Emotion und Gefühl. Faszinierend ist, wie unterschiedlich die vier Göttinnen musikalisch gezeichnet sind. Vérité hat eine energische Isoldenstimme mit leuchtenden Spitzentönen, Beauté zeichnet sich durch besonders schöne, reine Gesangslinien aus, Bonté erklingt weich und fast zärtlich. Die Melodien von Souffrance dagegen sind durch große Tonsprünge und eine tiefe Stimmlage gekennzeichnet und von Dissonanzen durchzogen.

In der 6. Szene des ersten Aktes „À moi, forces de la nature, germes et poussières“ erschafft Vérité für Guercoeur einen neuen Körper. Das ist eine hochdramatische Arie, in der die Stimme mit leuchtenden Spitzentönen das wild bewegte Orchester dominiert und sich bis zum lang ausgehaltenen hohen B emporschwingt.

Zu Beginn des zweiten Aktes erwacht Guercœur auf einem Hügel und begrüßt voll Freude die Natur und den Frühling: „Où suis-je ? Quel murmure me charme“. Diese Arie des Guercoeur ist sehr bewegt, aus jeder Note spricht das fast ungläubige Staunen darüber, wieder „erwacht“ und am Leben zu sein.

Das Zusammentreffen Guercoeurs mit Giselle im zweiten Tableau des zweiten Aktes ist psychologisch und musikalisch sehr fein und einfühlsam gezeichnet. Besonders schön ist die Szene, in der Guercoeur Giselle schließlich verzeiht: „Si cruelle, si touchante!“. Unheimlich liebevoll und zärtlich ist das. Himmlische Harmonien aus dem ersten Akt mischen sich hinein in die Musik. Zum Schluss dominiert das düstere Motiv der Souffrance.

Der Aufstand des aufgehetzten Volks im dritten Tableaus des zweiten Aktes ist voll expressionistischer Dramatik und mit hochvirtuosen Chorpartien umgesetzt. Das Libretto ist so voll von aktuellen populistischen Sprechweisen, dass es mich schaudert – das ist bestürzend gegenwärtig. Es gipfelt in einer wildbewegten Szene, in der Guercoeur schließlich wieder getötet wird: „Prodige! Est-ce Guercoeur?“. Das ist außerordentlich mitreißend komponiert, eine grandiose Massenszene unter Einbeziehung der beiden Hauptrollen Guercoeur und Heurtal. Mit „Vive Heurtal!“ schließt sich der Siegeschor der Anhänger des neuen Diktators an – ein triumphaler (aber hohler) Marsch, fast wie eine Nationalhymne.

In der Arie „Louange à vous, puissances bienfaisantes!“ nimmt Guercoeur im dritten Akt in Gegenwart der Göttinnen sein Schicksal an und bittet um Vergebung. Diese Arie ist sehr bewegt, voller Melodik, fast schwärmerisch, Guercoeur wird von seinen Gefühlen übermannt.

Großartig und virtuos ist die Arie der Vérité „Bien, mon fils!“. In ihr verspricht sie Guercoeur, dass sich eines Tages sein Traum von Freiheit und Gerechtigkeit auf der gesamten Erde erfüllen werde. Es ist eine große Arie mit weiten Melodiebögen und hohen Spitzentönen. Es ist eine Prophezeiung, die in einem fast hymnisch verklärten Schluß endet.

Im Schlußquartett „Oublie à jamais l‘angoisse passagère“ schenken die vier Göttinnen Guercoeur ewigen Frieden. Dieses Quartett gehört für mich zu den schönsten und musikalisch bewegendsten Opernszenen überhaupt. Es ist von überirdischer, fast atemberaubender Schönheit. Allein schon wegen dieser Szene lohnt sich die ganze Oper. Dieses Stück ist ein Opernschluss, der einem die Tränen in die Augen treiben kann. Es endet mit dem fortissimo gesungenen „Espoir“ des unsichtbaren Chores. Mit dem Leid (dem Souffrance-Motiv) begann die Oper – aber sie endet in Hoffnung.

Wenn man sich nur eine Opernrarität für die einsame Insel aussuchen dürfte, dann wäre das für mich „Guercoeur“. Sie ist ein Juwel. Ich würde mir wünschen, dass sie nach der so erfolgreichen Wiederentdeckung in Osnabrück jetzt auf viele Spielpläne kommt. Ein Erfolg wäre jedem Opernhaus sicher.

Die Gesamtaufnahme der Oper kann in Youtube mit der Suche „Magnard Guercoeur Plasson“ gefunden werden.

Hans-Joachim Riehn

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