Opernraritäten #10: Jean Sibelius „Die Jungfrau im Turm“ – romantisch, klar und märchenhaft

Kaum bekannt ist, dass der große finnische Sinfoniker Jean Sibelius auch eine Oper geschrieben hat. Mit seiner „Jungfrun i Tornet“ hat er eine romantisch melodiöse Kurzoper geschaffen, die seine eher dunkle Melodienwelt mit nordischer Leichtigkeit verbindet.

In meiner Aufnahme von 1984 spielt das Gothenburg Symphony Orchestra unter Neeve Järvi, erschienen ist sie bei BIS.

Döhrener Turm in Hannover
(Foto und Copyright: Achim Riehn)

Jean Sibelius ist berühmt für seine Sinfonien, sinfonischen Dichtungen und Schauspielmusiken. Zeit seines Lebens war er aber auch von der menschlichen Stimme fasziniert und integrierte sie in verschiedene Werke wie z.B. die Kullervo-Sinfonie. Um Wagner zu hören, fuhr er nach München und Bayreuth. Eine Aufführung von „Tristan und Isolde“ versetzte ihm aber einen solchen Schock, dass er beschloss, bei sinfonischen Werken zu bleiben.

Seine Opernpläne hatte er aber dennoch nicht völlig aufgegeben. Als er gefragt wurde, ob er für ein Lotteriefest zu Gunsten des Philharmonischen Orchesters Helsinki eine Kurzoper komponieren könnte, sagte er zu. Die Komposition ging schnell von der Hand, das romantische Sujet lag Sibelius. Ende 1896 wurde der Einakter von knapp vierzig Minuten Länge uraufgeführt.

Das Libretto in schwedischer Sprache von Rafael Hertzberg beruht auf einer Volksballade und ist sehr romantisch. Die Jungfrau und ihr Geliebter gehören beide zu den Bediensteten eines Schlosses. Der Schloßverwalter begehrt die Jungfrau, sie weist ihn aber ab. Daraufhin hält er sie in seinem Turm gefangen. Alle Schloßbewohner glauben, dass sie ihre Ehre für Gold verraten hat, nur ihr Geliebter hält zu ihr. Er versucht sie zu retten, es kommt zum Kampf mit dem Verwalter. Da erscheint die Schloßherrin, sie beendet die Auseinandersetzung. Der Verwalter wird verhaftet, die Liebenden kommen zueinander.

Die Musik der Oper ist sehr melodiös und klangschön. Es ist ein Sibelius, der auf die typische Düsternis und Wucht seiner sinfonischen Musik verzichtet. Alles klingt leicht und durchsichtig, fast wie im Volkston. Das ist ganz fein auf das märchenhafte Sujet abgestimmt. Es gibt Arien, Duette und Ensembles, die Oper ist aber durchkomponiert. Sie ist eigentlich ein sinfonisches Bild mit Gesang. „Die Jungfrau im Turm“ ist ein großes Orchesterlied, in dem alle Stimmen und alle Klanglinien perfekt zur Geltung kommen.

Besetzt ist die Oper mit vier Solorollen, Chor und einem von den Streichern dominierten Orchester. Mag das Stück für eine Inszenierung auch zu kurz sein, für eine Aufführung im Rahmen eines Sinfoniekonzerts wäre es perfekt geeignet.

Die Oper kann gut in einem Stück durchgehört werden. Alle Szenen sind gleichermaßen hörenswert.

Die Ouvertüre gibt schon einen guten Eindruck von der Musik. Dunkel und geheimnisvoll beginnt es, aufsteigende Melodielinien kommen dazu, die Musik wird immer tänzerischer und romantischer.

Die zweite Szene ist eine große Arie der Jungfrau. Sie beginnt ruhig, sakral, wie ein Gebet in der Kirche. Im Lauf der Arie wird die Jungfrau dann aber immer mehr von ihren Gefühlen überwältigt. Die Arie verwandelt sich in ein hochdramatisches Stück Musik. Diese Rolle ist eine glanzvolle Partie für den Sopran mit großen Tonsprüngen und weit geschwungenen Melodielinien.

In der dritten Szene beteuert die im Turm gefangene Jungfrau ihre Unschuld, die anderen Schloßbewohner (der Chor) glauben ihr nicht. Die Szene beginnt wie ein frohes Frühlingslied, wird dann aber immer düsterer. Der zuerst fast liebliche Chor verwandelt sich in eine abweisende, fast archaisch klingende Menge an Menschen. Hier erinnert viel an die Kullervo-Sinfonie von Sibelius mit ihren Chorklängen, die wie Ritualmusik wirken.

Die fünfte Szene zwischen Jungfrau und Liebhaber ist voller Ausdruck und sehr emotional. Eigentlich ist es ein Trio, weil das Orchester seine eigene Stimme hat. Die Szene wird immer inniger und ruhiger, wird zu einem richtigen Liebesduett. Die Harmonien erinnern zum Schluß an die Welt Richard Wagners, sie sind geheimnisvoll, feierlich, dunkel.

In der siebten und der achten Szene kommt die Schlossherrin hinzu und löst den Knoten. Diese Rolle für die tiefere Frauenstimme ist nur kurz, dafür sind ihre Melodien weit gespannt und leuchtend schön. Der Chor fällt ein, eine emotionale Steigerung folgt. Das Stück klingt aus in einer großen Ensembleszene, in einer Jubelfeier, einem Hymnus an die Liebe mit triumphalen Schluss.

Die Oper macht beim Hören sehr viel Freude. Für alle Freunde romantischer Musik ist hier ein Kleinod zu entdecken. „Die Jungfrau im Turm“ ist unbekannter Sibelius, der das Anhören lohnt.

Auf Youtube kann man mit der Suche „sibelius maiden in the tower“ eine neuere Aufnahme der Oper finden.

Achim Riehn

Dieser Beitrag wurde unter Besprechung Aufnahme, Opernraritäten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.