Der „Antikrist“ von Rued Langgaard ist (noch) ganz unbekannt. Hier ist ein außerordentlich originelles und klangfarbiges Stück zu entdecken, das sich jeder Kategorisierung entzieht. Im März hätte die Oper an der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Stephan Zilias Premiere gehabt, wegen der Pandemie ist das leider ausgefallen. Ich hatte schon Karten, ich hoffe, dass das nachgeholt wird.
Auf meiner Aufnahme der Firma Dacapo aus dem Jahr 2002 spielt das Danish National Symphony Orchestra unter der Leitung von Thomas Dausgaard. Unter den Solisten ist auch Camilla Nylund, die einmal Mitglied des Ensembles der Staatsoper Hannover war.
Rued Langgaard (1893 – 1952) wuchs in einer hochmusikalischen Familie auf, die früh für eine umfassende musikalische Ausbildung sorgte. Früh zeigte sich seine große Begabung. Seine Jugend verlief überbehütet, seine Eltern waren tief religiös und allem Modernen gegenüber abgeneigt. In seiner Musik trug er immer wieder den Konflikt zwischen Tradition und Moderne aus. Als er nach Anfangserfolgen keine Beachtung mehr fand, zog er sich verbittert zurück und wurde in seinen Werken immer exzentrischer und radikaler. Sein Leben lang litt der hochsensible und introvertierte Musiker unter der fehlenden Anerkennung. Erst mit fast fünfzig Jahren erhielt Langgaard eine Organistenstelle, elf Jahre später starb er. Sein Werk geriet völlig in Vergessenheit. Ende der Sechziger begann eine allmähliche Wiederentdeckung und inzwischen gilt er als einer der wichtigsten Komponisten Skandinaviens zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Musikalisch passt Langgaard in keine Schublade. Seine Werke sind voller Symbolismus und ekstatischer Romantik. Teilweise nehmen sie sogar den Minimalismus und die Avantgarde voraus.
„Antikrist“ ist die einzige Oper Langgaards. Er komponierte sie zwischen 1921 und 1923, wegen des angeblich zu verqueren Texts wurde eine Aufführung abgelehnt. Auch nach einer radikalen Überarbeitung zwischen 1926 und 1930 kam es zu keiner Aufführung. Die Kopenhagener Bühnen lehnten das Werk mehrfach ab. Die szenische Uraufführung fand dann erst 1999 in Innsbruck statt.
„Antikrist“ ist eine Mischung aus Oratorium, Oper und Mysterienspiel. Langgaard gab ihr den Untertitel „Kirchenoper, Szenen des jüngsten Gerichts“. Es findet sich bei ihm auch die Bezeichnung „Stimmungs-Phantasie über unsere Zeit“. In diesem Begriff deutet sich schon an, um was es dem Komponisten hier (wie auch in vielen anderen Werken) ging – eine fast schon verzweifelte Auseinandersetzung mit der Tradition und der Moderne. Materialismus und Moralverlust werden geistigen Werten gegenübergestellt. Die Moderne wird moralisch hinterfragt und es bleibt nur der Glaube an das Göttliche.
Langgaard verfasste das verrätselte Libretto mit seinen vielen Worterfindungen selbst. Worte wie „Kirchen-ödes-Lärmen“ dienen zur Umschreibung der damaligen Welt. Das Libretto erinnert an ein absurdes, surreal-philosophisches Gedicht, an einen in Stücke geschlagenen Text von Nietzsche. Ich kann nachvollziehen, dass die Kopenhagener Oper dies als zu wenig operngeeignet abgelehnt hat. Zudem folgt der Text keiner herkömmlichen Operndramaturgie. Es gibt keine eigentliche Handlung, keine eigentlichen Dialoge, ein philosophisches Weltgebäude wird errichtet. Niemand außer Langgaard käme auf die Idee, auf so einen Text eine Oper zu komponieren. Stockhausen vielleicht.
Es ist schwierig, eine Inhaltsangabe zu geben, da keine richtige Handlung vorliegt. In den Grundzügen orientiert sich die Oper an Themen der Apokalypse des Neuen Testaments. Die Menschheit ist verderbt und abgewirtschaftet. Der Teufel überzeugt Gott, den Antikristen auf die Erde zu schicken und die Menschheit zu versuchen. Der Antikrist erscheint nicht als einzelne Person, sondern ist in mehrere allegorische Figuren aufgesplittert, darunter ist der „Mund, der große Worte spricht“, da sind der „Hass“, die „Lüge“ und der „Missmut“. Als der Teufel schließlich zu siegessicher wird und den Tod Gottes verkünden will, vernichtet Gott den Antikristen und richtet und rettet die Welt. Das ist zwar christlich angehaucht, lässt sich da aber in seinem Mystizismus nur schwer einordnen.
Bis hierher könnte man die Oper als Absurdität eines verqueren Außenseiters betrachten. Aber Langgaard gießt über das alles eine Musik, die einfach außerordentlich und einzigartig ist. Hochromantische Klänge finden sich hier, die Tonsprachen von Wagner, Strauß und Schreker klingen an. Aber es ist eine ganz eigene Musiksprache, expressiv und höchst individuell, voller Klangfarben, durchzogen von blitzartig aufzuckenden, hochmodernen Klängen. Musikalisch ganz unterschiedliche Formeln und Stilarten stehen sich gegenüber. In der Oper tritt die Musik als eigenständiger Protagonist auf, sie kommentiert unablässig das Geschehen, treibt es voran. Sie ist ein Spiegel, in der sich die apokalyptische Handlung in unendlich vielen Farben bricht.
Es ist schwer, einzelne Nummern zum Hereinhören herauszusuchen. Die Oper ist komponiert wie ein großes sinfonisches Gedicht, in das Gesangspassagen eingebettet sind. Jedes Bild mit Gesang wird mit einem Orchestervorspiel eingeleitet, dazu gibt es noch ein Vorspiel und einen Prolog.
Das „Vorspiel“ der Oper ist charakteristisch für den Stil von Langgaard, obwohl hier die Musik fast trügerisch sanft ist. Ein klarer musikalischer Raum öffnet sich, Glockenklänge ertönen, es gibt die für den Komponisten so typischen Stellen mit den Pauken allein. Choralartige Stellen wechseln sich ab mit in sich versunkenen, leisen Abschnitten, eine weit gespannte Melodie erhebt sich über einem unruhigen Untergrund.
Im „Prolog“ beschwört Lucifer den Antikristen herauf. Das sind an Schreker erinnernde Klangfluten voller Dramatik, expressionistisch aufgeladen. Die Gesangsstimme Lucifers ist sehr modern gehalten und weit weg von der Spätromantik. Zu tosenden Orgelklängen kommt die Stimme Gottes dazu.
Im „Vorspiel zum 2. Bild“ steigert sich Spätromantik ins Apokalyptische hinein. Altertümliche Musikformen mischen sich mit Musik, die sich der Moderne nähert, die fast aleatorisch klingt, die an das Orchesterchaos der Musik von Charles Ives erinnert.
Im „2. Bild: Die Hoffart“ sondert „Der Mund, der große Worte spricht“ seine Floskeln ab, es ist ein Sprechgesang mit nur angedeuteter Melodie in der Stimme. Dazu gibt es einen hochkomplexen orchestralen Hintergrund, wieder mit den Solopauken. Die Musik hier ist ganz typisch für Langgaard, eine Kreuzung aus impressionistischen Klängen mit der Moderne. Wieder gibt es einen fast aggressiv-lauten Schluß.
Im „4. Bild: Die Begierde“ singen im Wechsel „Die große Hure“ und „Das Tier in Scharlach“, „Die Menschheit“ (Chor) hat kommentierende Einwürfe zu singen. Die romantisch übersteigerten Orchesterfarben hier stellen selbst Schreker in den Schatten.
Das „5. Bild: Streit aller gegen alle“ ist die Nummer, die einer herkömmlichen Opernszene am nächsten kommt. „Die große Hure“, „Die Lüge“ und „Der Haß“ führen so etwas wie ein Gespräch miteinander. Das ist hochkomplex, dramatisch und expressiv, es wird im Laufe der Auseinandersetzung immer wilder und moderner.
Im „6. Bild: Verdammnis“ spricht „Eine mystische Stimme“ ihren Fluch aus: Tot ist Gott. Zum Auftritt von Gott und der Vernichtung des Antikristen bricht ein Orchestervulkan aus, danach setzt Beruhigung ein mit fast himmlischen Klängen. Es endet mit dem „Finale“, einer sich immer mehr steigernden Chorhymne, die in einem gigantischen Orchesterausbruch mündet. Der Himmel reißt auf. Es ist ein Himmel, der nicht mehr sanft ist, er erschreckt.
Auf Youtube kann die Aufnahme durch Suchen nach „Langaard Antikrist Dausgaard“ gefunden werden. Ein blutrotes Cover mit schwarzem Kreuz führt zu einer Auflistung der einzelnen Nummern.
Achim Riehn