Mit „Greek“ hat es die Staatsoper Hannover wieder geschafft, ein Juwel auf die Bühne zu bringen und uns mit einem rauen, wilden und gleichzeitig bewegenden Stück Musiktheater zu begeistern. So muss man mit den Bedingungen der Pandemie umgehen: klein besetzt, grandios gespielt und gesungen, innovativ und radikal mit den Beschränkungen spielend.
Die Aufführung wurde live online übertragen. Zu Beginn der Aufführung hatte der Stream mit technischen Problemen zu kämpfen. Nach einer Unterbrechung wurde neu gestartet, was aber alle auf Bühne und im Orchestergraben professionell bewältigten
„Greek“ von Mark-Anthony Turnage wurde 1988 uraufgeführt und ist eine der Opern der neueren Zeit, die regelmäßig auf den Spielplänen steht. Turnage (Jahrgang 1960) komponierte die Oper zwischen 1986 und 1988 als Auftrag der Stadt München für die erste Münchner Biennale. Der Auftrag wurde vom Gründer der Biennale, dem deutschen Komponisten Hans Werner Henze, vorgeschlagen, der Turnage am Tanglewood Music Center unterrichtet hatte und seine bisherigen Arbeiten bewunderte.
Es ist eine Kammeroper für vier Sängerinnen und Sänger, dazu gibt es ein klein besetztes Orchester. Zu einer rhythmisch-dominierten Musik zwischen Strawinsky und Jazz kommt eine Handlung, die Moderne und Mythos vereint. Belcanto bietet die Musik nicht, dafür eine volle Portion Emotion. Gute Voraussetzungen für einen Stream in Pandemiezeiten!
Die Oper nimmt den Ödipus-Mythos und versetzt ihn in das London der Thatcher-Zeit, in das verarmte Arbeitermilieu. Dieses London wird von einer „Plage“ heimgesucht, einer Metapher für Arbeitslosigkeit und Trostlosigkeit.
Dem Milieu und den handelnden Personen angepasst ist die Sprache in der Oper drastisch, es ist das Straßenenglisch der Unterschicht. Ein größerer Gegensatz zur altehrwürdigen Sprache eines griechischen Dramas ist kaum denkbar. Für eine Oper ist das gänzlich ungewohnt, es trägt aber erheblich zum Realismus (und zum Spaß) bei.
Eddy ist dieser Londoner Ödipus. Es gibt die Wahrsagung, dass er einst seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird. Um dem zu entkommen, verlässt er seine Familie und flüchtet sich in Alkohol und Gewalt. Aber er kann nicht entfliehen, überall und in allen Personen sieht er die Gestalten seiner Vergangenheit, gespielt von den anderen drei Sängerinnen und Sängern.
Schließlich stirbt nach einer Rangelei mit Eddy der Manager eines Cafés und Eddy heiratet dessen Ehefrau, die Kellnerin. Zehn Jahre leben sie glücklich miteinander. Eddy tötet schließlich die die Plage verkörpernde Sphinx. Bei der Feier danach fliegt das Geheimnis auf. Seine Eltern sind nur seine Pflegeeltern, seine wahren Eltern waren der Cafemanager und dessen Frau. Aber anders als bei Sophokles geht die Geschichte gut aus. Eddy sticht sich nicht die Augen aus, sondern glaubt an die Liebe und verteidigt sie.
Turnage hat dazu eine Musik komponiert, die ganz nah an den Personen, ihrem Milieu und deren Zeit ist. Es ist eine Musik, die unaufhörlich Elemente aus Jazz, Pop, Punk, Revue und Fußball-Fangesängen aufgreift und ironisch integriert. Das steigert sich bis zum dämonischen Marsch und Tumult, wenn sich das Orchester zum Straßenaufruhr in eine mit Trillerpfeifen bewaffnete, Schlagwerk hämmernde und Parolen gröhlende Masse verwandelt. Das ist gleichzeitig brutal und mitreißend.
Eddy ist dabei der Protagonist, um den sich alles dreht. Es ist seine Geschichte. Die drei anderen Charaktere bedrängen und umkreisen ihn in den Episoden, kommentieren das Geschehen wie ein griechischer Chor der Neuzeit. So kommt es zu abwechslungsreichen Duetten, zu Terzetten. Auch Eddy kommentiert das Geschehen, meist zynisch und ironisch in vielen kurzen Monologen, nicht gesungen, sondern gesprochen.
Für die Aufführung wurde eine Produktion des Edinburgh International Festival von Regisseur Joe Hill-Gibbins mit den Sängerinnen und Sängern der Staatsoper neu einstudiert. Die Inszenierung schafft es, die vielfältigen Facetten der Geschichte bunt und eindrücklich abzubilden. Die Stile der Musik finden sich auf der Bühne wieder. Bilder aus der Oper gibt es genauso wie Bilder aus einem Rockkonzert. Das Liebesduett zwischen Eddy und der Kellnerin ist wie ein romantisches Ballett inszeniert, mit dem toten Cafemanager in der Mitte. Der Aufstand auf der Straße verwandelt sich in ein bedrohliches Metal-Konzert mit Protagonisten in militärisch wirkenden Ledermänteln.
Die Inszenierung arbeitet mit wenigen Mitteln, die aber mit viel Witz genutzt werden. Auf der Bühne (Bühnenbild: Johanna Meyer) steht nur eine hohe weiße Wand mit zwei Durchlässen links und rechts. Bei Szenenwechseln dreht sie sich auf der Bühne um hundertachtzig Grad – alles wird anders, sieht aber danach genau gleich aus. Diese Wand wird für Videoprojektionen genutzt, deren Motive direkt von einem kleinen Tisch neben der Bühne abgefilmt werden. Das gibt harmlosen Dingen eine dämonische Dimension so wie in der Sphinx-Szene, in der sich eine geschminkte Puppe mit übergroßen Augen durch das Bild schiebt. Zur Schilderung der Plage kleckert Eddy auf britische Boulevardzeitungen sein Frühstück mit den Baked Beans und verteilt dann lebende Maden darüber. Drastischer und ekliger kann die Verrottung einer Gesellschaft kaum bebildert werden.
Die Kostüme von Alex Lowde und Winnie Janke sind ebenso bunt und ausdrucksvoll wie das, was auf die Wand projiziert wird. Während Eddy mit rotem Trainingsanzug, weißem Poloshirt und feinem dunkelroten Anzug auskommt, müssen die anderen Personen unablässig die Kostüme wechseln. Dies geschieht in Windeseile hinter der Wand, und schon verwandelt sich die edel gekleidete Ehefrau in eine dunkle Gothic-Sphinx.
Der Staatsoper ist es gelungen, diese Oper hochkarätig zu besetzen. Weder stimmlich noch schauspielerisch blieben Wünsche offen.
James Newby verkörperte Eddy mit einer fast beängstigend wirkenden Präsenz. Jederzeit nahm man ihm seine Rolle ab, sowohl den Proll im roten Trainingsanzug zu Beginn als auch den gutsituierten Cafebesitzer im feinen roten Anzug. Seine Stimme wechselte mühelos zwischen Rohheit und Gewalttätigkeit und unglaublicher Ausdruckskraft und Klangschönheit in den intimeren Passagen. Auch in seinen gesprochenen Dialogen ist er ein großartiger Darsteller. Alles ist drastisch, wirkt ehrlich und geradeheraus, nichts wirkt übertrieben.
Seine drei Protagonistinnen und Protagonisten standen ihm in nichts nach. Iris van Wijnen (Kellnerin und Ehefrau) mit ihrer klaren, warmen Stimme war die perfekte Ergänzung zu James Newby, eine Verkörperung von Sinnlichkeit und Mütterlichkeit. Michael Kupfer-Radecky (Vater, Cafemanager) und Angeles Blancas als Mutter waren für die eher komischen und bizarren Momente zuständig. Mit intensivem Gesang gelang das perfekt. Auch darstellerisch höchstes Lob, niemals glitt dies in eine Persiflage ab.
Besonders bewegend waren Eddys Monolog, in dem er die Enthüllungen verarbeitet sowie das darauf folgende Quartett. Das trieb mir fast die Tränen in die Augen.
Dem Niedersächsischen Staatsorchester mit Stephan Zilias am Pult gelang es wunderbar, diese zwischen allen Stilen chargierende Musik auf die Bühne zu bringen. Sowohl die wilden und schrägen Teile der Partitur als auch die romantischen und sanften Passagen gelangen bezwingend.
Obwohl es nicht die Musik ist, die ich jeden Tag hören möchte, hat mich diese Oper doch begeistert, ja berührt. Aber es trug auch alles dazu bei. Eine packende Geschichte mit aufrüttelnder Musik traf auf großartige Interpretinnen und Interpreten und eine witzige und doch anrührende Inszenierung. Wenn moderne Oper, dann so!
Aus rechtlichen Gründen stand die Aufzeichnung leider nur vierundzwanzig Stunden zur Verfügung. Hoffen wir also auf eine Aufführung live vor Publikum! Es lohnt sich!
Achim Riehn