Vorstellung „Nixon in China“ am 08.06.2023 – der absolute, klangschöne, bunte Wahnsinn!

Auf den Punkt gebracht hat es die „Opernwelt“ auf Twitter nach der Premiere: „Der absolute Wahnsinn. Wer das verpasst, hat die Kontrolle über seinen Opernterminkalender verloren!“. „Nixon in China“ ist ein Versuch, die französische „Grand opéra“ mit Minimal Music und Elementen der Populärmusik in die Gegenwart zu holen und gleichzeitig auch zu karikieren. Herausgekommen ist eine überaus klangschöne, hörenswerte und spannende Oper.

Geplant war dieses Stück schon für Mai 2020, die Pandemie hat das verhindert. Was für ein Glück, dass wir das endlich in dieser bunten, überbordenden, satirisch-traurigen Inszenierung von Daniel Kramer sehen und hören können! Zum Fest für das Auge kommt ein Fest für die Ohren, das ist einfach beeindruckend auf die Bühne gebracht, beeindruckend gesungen und gespielt. Die „Opernwelt“ hat Recht: Wir dürfen uns das nicht entgehen lassen! Nach dieser Aufführung war ich völlig begeistert, was man auch an diesem Text merken wird.

Foto und Copyright: Sandra Then

„Nixon in China“ von John Adams ist eine Oper voller musikalischer Farben, gespickt mit großartigen Gesangspartien. Dazu kommt ein interessantes und opernwirksames Libretto. Sie ist keine „richtige“ Rarität, sie steht ab und zu auf Spielplänen, mit steigender Tendenz. Noch aber gehört sie nicht zum Kernrepertoire. Unter den Opern des späten 20. Jahrhunderts ist sie eine der wenigen, die nicht wieder in der Versenkung verschwunden ist. Die dreiaktige Oper hat den Staatsbesuch von Richard Nixon im Jahr 1972 zum Thema. Dieses medienwirksam ausgeschlachtete und live übertragene Treffen von Nixon mit Mao Zedong nehmen John Adams und Librettistin Alice Goodman zum Anlass, auf fast satirische Art und Weise moderne Heldenmythen zu hinterfragen. Dabei wird die politische Ebene mit der privaten Ebene gemischt, Fakten mischen sich mit Fiktion, das Stück tritt so einen Schritt heraus aus der Realität. Die Uraufführung fand im Oktober 1987 in Houston statt.

Die Oper zeigt die Begegnung zweier Systeme und zweier Kulturen, aber auch zweier Ehepaare. Die Systeme und Kulturen treffen aufeinander und verstehen sich nicht. Gleichzeitig blickt das Stück tief hinein in die Seelen dieser Staatslenker und ihrer so unterschiedlichen Frauen. Es sind auch nur Menschen, die sich nicht verstehen, deren Beziehungen vergänglich sind. Fast dokumentarische Bilder werden dem Scheitern von persönlichen Beziehungen gegenübergestellt. Alice Goodman nutzte teilweise für das Libretto Redeausschnitte von Mao und Passagen aus den Erinnerungen von Nixon – allerdings in gereimte Verse übertragen. Das Zeitgenössisch-Dokumentarische kippt aber im Verlauf der Oper zunehmend ins Fiktiv-Surreale und wird ironisch überhöht, was den großen Reiz des Librettos ausmacht.

Der erste Akt beginnt leise mit einem Chor der wartenden Menschen auf dem Flugfeld, dann landet die Air Force One. In der ersten Szene begrüßt Premierminister Chou En-lai Nixon auf dem Flugfeld, in der zweiten Szene trifft Nixon mit Mao zusammen. In der dritten Szene folgt das große Staatsbankett mit Reden von Chou En-lai und Nixon. Die Handlung ist hier fast noch dokumentarisch und orientiert sich an den historischen Ereignissen.

Auch die erste Szene des zweiten Akts ist noch dokumentarisch. Patricia Nixon absolviert das Begleitprogramm mit verschiedenen Besichtigungen. In der zweiten Szene kippt dann die Handlung ins Surreale. Der Besuch eines Revolutionsballetts endet damit, dass die amerikanischen Gäste in die Bühnenhandlung verwickelt werden.

Der dritte Akt besteht nur noch aus einer Szene. Hier schaut die inzwischen ganz fiktive Handlung hinein in die Beziehungen der Personen und in ihr Innenleben. Chou En-lai trifft auf Kissinger, Mao tanzt mit seiner Frau. Mao und Nixon ziehen sich mit ihren Frauen zurück. Die beiden zentralen Paare der Handlung zeigen erschöpft und fast resignierend ihre innere, verborgene Seite. Sie erinnern sich an ihre Jugend und an das Vergangene. Der chinesische Premierminister Chou En-lai stellt in seinem die Oper beendenden, ergreifenden Monolog die offene Schlussfrage: „How much of what we did was good?“.

John Adams wird der Stilrichtung der Minimal Music zugeordnet, in der große Strukturen durch die Überlagerung, Wiederholung und allmähliche Veränderung kleiner musikalischer Partikel gebildet werden. Im Gegensatz zu Steve Reich mit seinen schwingenden Klangflächen und zur durch pulsierende Dreiklangbrechungen bestimmten Musik von Philip Glass greift John Adams aber viel stärker herkömmliche Stilmerkmale auf. Seine Klangsprache vereinigt den Sound von Bigbands und des Broadway und die Farbenpracht der Spätromantik mit den pulsierenden Klangteppichen der Minimal Music.

In „Nixon in China“ werden diese verschiedenen Stilelemente fast ironisch eingesetzt, um das Geschehen auf der Bühne zu kommentieren. Es ist eine Oper mit großem Orchester, herausfordernden Solo-Arien, mit Duetten, Terzetten und Quartetten, mit Ballettszenen – eine „Grand opéra“ in modernem Stil. Unablässig scheinen vertraute Strukturen der Operngeschichte hindurch. Andererseits werden auch immer wieder Elemente der Unterhaltungsmusik aufgegriffen. Mit Swingmelodien, hämmernden Rhythmen und Elementen aus Rock, Blues und Jazz stellt John Adams die Heldengeschichte intelligent infrage. Die Musik ist spannend und komplex, die Sinne verwirrend, sie funktioniert so ähnlich wie die Bilder des Malers Escher. Diese Musik hat Kraft, aber ist auch voller Leichtigkeit, Spaß und Poesie.

Um dazu die passenden Klänge zu erzeugen, ist das Orchester um eine große Saxophonsektion, zusätzliche Percussion und einen elektronischen Synthesizer erweitert. Dieser Synthesizer soll wie aus den Achtzigern (dem Zeitraum der Entstehung) klingen. Um einen homogenen Gesamtklang hinzubekommen, wird die Musik elektronisch leicht verstärkt, wie in der Partitur vorgeschrieben.

Der musikalische Ablauf ist dabei umgekehrt wie die meisten Opern gestaltet. „Nixon in China“ beginnt laut und voller Energie und wird im Laufe des Stückes immer durchsichtiger und intimer. Die Oper endet fast resignativ. „Wie viel von dem, was wir getan haben, war gut?“ bleibt im Raum stehen, gesungen von Chinas Premierminister Chou En-Lai.

Jede der durchkomponierten Szenen beginnt mit einer Orchestereinleitung, eine Ouvertüre fehlt. Der Beginn des ersten Aktes ist symptomatisch für den ironischen Stil der Oper. Das Orchester leitet ein mit leisen, perlenden Klangketten, dann kommt der Chor der zur Begrüßung abkommandierten Massen dazu. „Soldiers of heaven hold the sky“ – leise, hypnotisch ertönt dieser Chor. Es sind mechanisch wiederholte Revolutionsfloskeln in Moll. Die Stimmung ist winterlich trübe, eine erwartungsvolle Spannung wird aufgebaut. Mit der Ankunft der Maschine des Präsidenten wendet sich die Musik nach Dur, sie wird bewegter, steigert sich ins Triumphale hinein. Die Ankunft des Präsidenten wird inszeniert wie eine überirdische Erscheinung, es ist eine wagnersche Gralsmusik.

Jede der Hauptpersonen bekommt in der Oper ihre große Arie, ganz klassisch. Es ist wunderbar, wie textverständlich und stimmunterstützend das komponiert ist. In diesen große Arien zeigen sich die Personen als klar gezeichnete Menschen mit ganz eigenem Musikcharakter.

Wichtig ist, was uns eine Oper in der heutigen Zeit zu sagen hat. Darauf legt auch Regisseur Daniel Kramer großen Wert, wie er in der „Kostprobe“ zur Oper sagte. Das historische Sujet wird in der Oper nur als Ausgangspunkt genommen, es geht dann ganz klassisch um Beziehungen zwischen Personen. Es ist eine „Heldengeschichte“, aber es sind moderne, gebrochene Helden. Es geht um die Distanz und die Nähe zwischen den Personen, das ist zeitlos, das ist „a step away from history“. Dabei sind alle Personen auf der Bühne ganz individuell gezeichnet. Daniel Kramer arbeitet die Beziehungen zwischen den Personen präzise heraus, zeigt das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Staatsmännern und ihren Frauen in all seiner Tragik und gleichzeitig auch Komik.

Die Drehbühne mit dem wunderbar bunten und vor Details überquellenden Bühnenbild von Lizzie Clachan und die tollen Kostüme von Esther Bialas tragen viel zur außerordentlichen Wirkung bei. Blitzschnell rotiert der Zuschauer so zwischen den Schauplätzen hin und her, im Nu wechselt man so aus dem Präsidentenschlafzimmer hinein in eine Theatervorführung. Das ist immer wieder verblüffend und bildmächtig. Staatstragende Bilder wechseln so mit privaten Szenen voller manchmal fast an Loriot gemahnender Präzision und Komik. Zwei Präsidenten im Bade, es fehlt nur noch das Entchen aus Gummi. Herrlich auch der Beginn des dritten Akts: Madame Mao kehrt mit einem Laubbläser die Flitter aus dem zweiten Akt zusammen. Aber die Parodie wird immer nur gestreift, die Inszenierung wird immer mehr zu einer Art surrealistischen Reise ins Innere der Personen.

Beeindruckend ist die Farbgestaltung. Grün beherrscht bei aller Bonbon-Buntheit die Szene, grün ist auch der Hintergrund. Es ist das Grün des „Green Screen“, das im Fernsehen dazu genutzt wird, Hintergrundszenen hineinzukopieren. Wir als Zuschauer schauen hinein in eine Inszenierung und können sie mit unseren Assoziationen auffüllen. Auch der Chor ist fast durchgängig in dieses Grün gekleidet. In diesen Inszenierungen für die Medien ist der Mensch nur austauschbares Beiwerk.

Auf den zweite Akt möchte ich näher eingehen, weil er das Charakteristische dieser Oper gut zusammenfasst. Das ist rasant, farbenprächtig, bildmächtig, satirisch, das ist eine Traumsequenz in der Art eines „Glamour-Musicals“. Die Drehbühne wechselt blitzschnell die Szenerie. Chor, Bewegungschor und Statisterie haben komplexe Abläufe, es gibt Tanzeinlagen aus dem Ballett. In der Mitte des Akts zieht ein „Tropical storm“ über das Land. Dies ist eine außerordentlich klangprächtige und mitreißende Sturmszene. Die Minimal Music wird hier hochromantisch überhöht, sie ist durchzogen mit Klängen von Strauß und Wagner. Ich höre das Gewitter der Alpensinfonie und Anklänge an Motive aus Salome und dem Ring des Nibelungen (das Götterdämmerungsmotiv?). Diese Musik wird aber nicht kopiert, sondern wie eine Klangfarbe benutzt.
Ich konnte mich an den Bildern nicht satt sehen, die Zeit verging wie im Flug. Der Akt endet in einem Rausch aus Musik und sich bewegenden Personen, sich wie in einer Disco überlagernden, blinkenden Lichtspuren. „The book!“-Rufe wie skandierende Fangesänge in einem Fußballstadion, das war mitreißend. Meine Füße kamen aus dem Mitwippen nicht mehr heraus. Ganz großartig ist es, wie Choreografin Xenia Wiest die Solistinnen und Solisten, den hervorragenden Opernchor, Bewegungschor, Statisterie und vier Tänzerinnen und Tänzer zu einem mitreißenden Ballett vereinigt, zu einer Orgie aus Bewegungen. Welches Opernhaus bekommt so etwas sonst so perfekt und begeisternd hin?

So wie dieser zweite Akt wurde alles außerordentlich beeindruckend gesungen und umgesetzt. Dirigent Daniel Carter, das Niedersächsische Staatsorchester, das herausragende Solistenensemble und der tolle, extrem geforderte Chor (Leitung Lorenzo Da Rio) ließen die Musik zum Ereignis werden. Die schwebende, irisierende Musik mit ihren komplexen rhythmischen Verschiebungen wurde so zu einem hypnotischen Erlebnis. Hervorzuheben sind auch die beiden Tontechnikerinnen Maria Anufriev und Anush Grigoryan. Sie setzten das von John Adams vorgeschriebene, elektronisch verstärkte „Sound Design“ bezwingend um. Das klang immer natürlich.

Wie oben schon erwähnt, bekommt jede der Hauptpersonen in der Oper ihren großen Auftritt. Hier zeigte sich die Güte und Hochklassigkeit des Solistenensembles. Die beiden Staatschefs und ihre Frauen bildeten dabei ein Quartett aus Menschen, die sich in der Gesangskunst und in der Ausdeutung ihrer Rollen in nichts nachstanden.

Mark Stone ist ein gesanglich und spielerisch ausdrucksstarker Nixon, der auch seine innere Zerrissenheit zeigt. Seine Arie „News has a kind of mystery“ nach der Landung ist an den Stil der Da-Capo-Arien der Mozartzeit angelehnt. Es ist eine klangvolle, virtuose, vorantreibende Arie zu einem pulsierenden Rhythmus. Nixon zeigt sich hier als gehetzter, sich in seinen Worten fast überschlagender Charakter.

Daniel Norman als Mao ist ein Fanatiker, der aber auch fast komische Züge besitzt. Seine Arie „We no longer need Confucius“ ist völlig anders im Charakter als die Arie Nixons. Hier brüllt jemand seine staatstragenden Floskeln heraus, das ist aggressiv im Ton. Daniel Normans Tenorstimme ist hier beißend, scharf, schneidend. Im dritten Akt konnte er aber auch wunderbar seine lyrischen Fähigkeiten zeigen.

Eliza Boom erweckt als Pat Nixon zuerst den Eindruck, naiv zu sein, was zum großen Teil an ihren bonbonbunten Kleidern liegt. Aber sie wird positiv gezeichnet, als eine vielleicht zu sentimentale Frau mit Gefühlen. Ihre Arie „This is prophetic!“ aus dem zweiten Akt ist einer der Höhepunkte der Oper. Für mich ist dies eine der schönsten Arien des 20. Jahrhunderts. Diese Musik ist eher eine ausgedehnte Meditation, hochromantisch und sehr gesanglich. Eliza Boom singt dieses Stück (und nicht nur das) präzise und mit viel Gefühl. Die Stimme schwebt fast entrückt über dem leisen Teppich der Musik, das ist ganz großartig.

Beeindruckend ist die fast hexenhafte Mercedes Arcuri als Chiang Ch’ing. Sie ist eine moderne Königin der Nacht. Ihre Koloraturarie „I am the wife of Mao Tse-Tung“ ist mit hohen Tönen gespickt, es gibt große Intervalle. Das Aggressive dieser Person wird herausgekehrt und fast grell dargestellt. Mercedes Arcuri gelangen die extremen Tonsprünge dieser Arie hervorragend, das waren wirklich fast Giftpfeile. Auch sie hatte dann im dritten Akt die Gelegenheit, in den lyrischen Passagen die Klangschönheit ihrer Stimme zu zeigen.

Großartig ist auch Darwin Prakash als Chou En-Lai. Seine Arie auf dem Staatsbankett am Ende des ersten Aktes – „Ladies and gentlemen, comrades and friends“ führt wieder in eine andere musikalische Welt. Sie ist melodiös, romantisch, voller Leben. Diese fast wie eine Liebesarie klingende Musik setzt wieder einen ironischen Akzent, auf einem Bankett würde man sie nicht erwarten. Chou wird ausdrücklich als ein Mensch mit tiefen Gefühlen gezeichnet. Darwin Prakash sang das klangvoll und intensiv, mit wunderbarer Innerlichkeit und warmer Stimme. Bis zur letzten Spielzeit war Darwin Prakash noch Mitglied des Opernstudios der Staatsoper, es macht Freude, hier Zeuge einer solch guten Entwicklung zu sein.

Michael Kupfer-Radecky hat seinen großen Auftritt als aggressiv-dominanter Henry Kissinger im zweiten Akt, in dem er unvermittelt als böser Gutsherr in das Ballett einbezogen wird. Hier wird seine Bayreuth-gestählte Stimme zum großen Pluspunkt. Das ist präzise, auf den Punkt, mit Durchsetzungskraft, ein Wotan in China!

Begleitet wird Mao von seinen drei Sekretärinnen, die seine Thesen unablässig wiederholen (und wohl für die Nachwelt dokumentieren). Hier wird die Pop-Musik der Nixon-Ära ironisch zitiert. Die drei Sekretärinnen sind angelegt wie die traditionelle Begleitung eines männlichen Lead-Sängers durch seinen Chor von Background-Sängerinnen. Beatriz Miranda, Freya Müller und Milana Butaeva setzten das mit Witz und schönen Stimmen um, ein perfektes Trio, dessen Stimmen sich herrlich zu einer Stimme vereinigten.

Diese Vorstellung ließ mich begeistert zurück, sie war ein Fest für das Auge und für das Ohr. Die Musik schimmert, glitzert, strahlt, swingt, tanzt, schwebt. Die Stimmen betören das Publikum. Die Inszenierung schafft die perfekte Balance zwischen Ernst, Komik und Ironie. Der Beifall zum Schluss aus dem leider nicht ausverkauften Haus fiel zu Recht lang und enthusiastisch aus. „Der absolute Wahnsinn. Wer das verpasst, hat die Kontrolle über seinen Opernterminkalender verloren!“. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann glaubt der „Opernwelt“!

Achim Riehn

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