Opernraritäten #7: Franz Schmidt „Notre Dame“ – farbenreiche, glühende Musik der Spätromantik

Aus dieser selten aufgeführten Oper kennt fast jeder ein Stück: das in Wunschkonzerten oft gespielte Zwischenspiel (Intermezzo) aus dem 1. Aufzug. Diese schöne Musik sollte viel mehr dazu anregen, sich das ganze Werk anzuhören. Eine dramatische Oper ist zu entdecken erfüllt von farbenreicher, glühender Musik der Spätromantik.

In meiner bei Capriccio erschienenen Aufnahme aus dem Jahr 1988 spielt das Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Christof Perick. Es singen u.a. Gwyneth Jones, Kurt Moll und James King. Christof Perick ist im deutschen Sprachraum auch als Christof Prick bekannt, von 1993 bis 1996 war er GMD an der Staatsoper Hannover.

Franz Schmidt (1874 – 1939) war lange Jahre Mitglied der Wiener Philharmoniker. Ab 1914 arbeitete er als Professor an der Wiener Musikakademie und leitete sie später auch als Rektor. Er war ein hochangesehener und begehrter Lehrer. Nach dem Weltkrieg wurden sein Leben und Werk kritisch betrachtet, da er sich u.a. für den Anschluss Österreichs an Deutschland eingesetzt hatte. Franz Schmidt gilt als der letzte bedeutende Komponist der österreichischen Spätromantik. Seine Klangsprache ist individuell und charakteristisch, voll fein abgestufter, fast geheimnisvoller Harmonik.

Das Libretto für die zweiaktige Oper verfasste Franz Schmidt zusammen mit Leopold Wilk, der hauptberuflich Ingenieur und Chemiker war. Der Text ist an einigen Stellen ein bisschen unbeholfen, aber da hört man wegen des Wohlklangs drüber weg. Als Vorlage diente der Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Viktor Hugo. Entstanden ist die Oper 1903 bis 1906, die Uraufführung fand 1914 an der Wiener Hofoper statt.

Die Geschichte legt den Fokus auf das Schicksal der wunderschönen und betörenden Esmeralda, die von vier Männern begehrt wird. Nur zum Schein hatte sie Gringoire geheiratet, um ihn so vor dem Tod zu retten. Gringoire aber liebt seine Frau. In rasender Eifersucht sticht er den Hauptmann Phoebus nieder, gerade als sich Esmeralda Phoebus hingeben wollte. Danach stürzt Gringoire sich in die Seine. Esmeralda wird verhaftet und als Mittäterin angeklagt. Der dritte Mann ist der düstere Archidiakon, ein Priester. Das Verlangen nach Esmeralda zerstört sein Leben. Um von ihr freizukommen, lässt er ihre Hinrichtung zu. Quasimodo endlich versucht, die angebetete Esmeralda mit dem Kirchenasyl zu retten, vergeblich. Verzweifelt stößt er den Archidiakon, seinen Wohltäter, von der Kirche in die Tiefe.

Zu hören ist in „Notre Dame“ schönste, spätestromantische Musik. Die Harmonik geht bis an die Grenzen der Tonalität. Musik entsteht so von großer Ausdruckskraft und Emotionalität. Den Hauptpersonen sind dabei Leitmotive (und musikalisch getrennte Welten) zugeordnet, die sich je nach der Situation und Seelenlage der Personen verändern. Das erinnert von fern an Wagners „Tristan und Isolde“, ist aber völlig eigenständig. Das Motiv der Esmeralda beherrscht in strahlender Schönheit das berühmte Zwischenspiel. Ein rezitativischer Gesang schwingt sich immer wieder auf zu blühenden Melodien. Spätromantische Chromatik trifft in „Notre Dame“ auf ein veristisches Drama mit gesanglicher Melodik, eine sehr spannende und faszinierende Kombination.

Franz Schmidt war primär Komponist von Orchestermusik, das merkt man auch dieser Oper an. Sie gleicht über weite Strecken einem hochkomplexen sinfonischen Werk. Es finden sich eine Reihe von Formen der Instrumentalmusik. Die erste Szene z.B. ist in der Sonatensatzform gestaltet, im 2. Aufzug singt der Chor vierstimmige Fugenexpositionen. All dies ist aber kein Selbstzweck, sondern ist immer musikalischer Ausdruck der gerade stattfindenden Szene.

Alles in der Musik ist darauf angelegt, dass der Text verständlich ist. Das ist für Musik der Spätromantik ungewöhnlich. Man kann in „Notre Dame“ fast jedes Wort verstehen, ohne das Libretto mitzulesen. Die Musikmassen schlagen den Zuhörer nicht nieder. Das große Orchester deckt die Gesangsstimmen niemals zu, sie sind immer ein gleichwertiger Teil der musikalischen Gestaltung.

Die Oper bietet den Solisten prächtige Partien. Leider ist die Aufnahme nicht ganz ideal. Gwyneth Jones als Esmeralda klingt schön, aber nicht jugendlich genug, James King als Phoebus hört sich manchmal etwas angestrengt an. Kurt Moll ist möglicherweise nachträglich hinzugemischt worden, der Hall ist hier ein anderer. Aber trotz dieser Kritik ist es eine hörenswerte Aufnahme.

Auf einige Nummern möchte ich besonders hinweisen, die einen guten Eindruck von der Musik Schmidts und von der Oper geben.

Die musikalische Sprache Schmidts tritt am klarsten im Vorspiel und den instrumentalen Zwischenspielen hervor. Das Orchestervorspiel zum 2. Aufzug ist dunkel und lastend (die folgende Szene spielt im Kerker). Die Musik voll tragischer Kraft erinnert an die „Toteninsel“ von Rachmaninoff.

Das berühmte „Intermezzo“ vor der 3. Szene des 1. Aufzugs bekommt seinen Sinn durch den Kontext – alle Männer träumen von Esmeralda, sie ist das musikalische Zentrum der Oper. Die fröhliche Musik der Karnevalsszene zuvor gleitet allmählich in die Esmeralda-Welt hinein. Nach einer Generalpause erklingt das Thema wie eine überirdische Erscheinung.

In „In holder Anmut“ aus der 1. Szene des 1. Aufzugs beschreibt Phoebus verzückt das Auftreten Esmeraldas. Das Esmeralda-Thema erklingt zum ersten Mal, glühend, lebensvoll, verheißungsvoll, fast majestätisch. Es wirkt wie das musikalische Erscheinen einer Göttin.

Ein starker Kontrast dazu ist „Hölle! Tod! Betrogen! Hintergangen!“ aus der 2. Szene des 1. Aufzugs. Gringoire schildert dem Archidiakon seine Geschichte. Es beginnt mit einem fast dissonanten Aufschrei des Orchesters als Ausdruck des Gefühlschaos in Gringoire. Die Musik gerät dann immer mehr in Bewegung, in emotionalen Aufruhr. Dann kommt die viel ruhigere, majestätische Choral-Welt des Archidiakon dazu. Auch diese Welt gerät dann immer mehr in Unruhe, wenn die Rede auf Esmeralda kommt. Es folgt die große Szene des Gringoire („Ach, dieser Sang, göttlich wie sie selbst“). Sehr gut gefallen mir hier Horst Laubenthal als Gringoire und Hartmut Welker als Archidiakon.

Aus der 1. Szene des 2. Aufzugs ist die Arie des Archidiakon „So sanft und friedlich“ hervorzuheben. Dies ist zuerst wie eine herkömmliche Arie gestaltet, melodisch und verinnerlicht. In der Stimmung erinnert mich dieser Beginn an das „Sie hat mich nie geliebt“ des Königs aus dem „Don Carlo“ von Verdi. Es geht dann aber immer mehr ins fast Expressionistische über, wenn der Archidiakon sich seine Besessenheit von Esmeralda eingesteht.

Die 3. Szene des 2. Aufzugs beginnt mit einer Arie Esmeraldas – „Es flieht der Schlummer meine Augen“. Das ist eine flirrende und gleißende Nachtmusik, die in ein wunderbar seelenvolles Duett mit Quasimodo übergeht. Dies steigert sich dann dramatisch, als die Kirche umstellt und Esmeralda abgeholt wird.

Der Schluß der Oper beginnt mit einer großen Arie des Archidiakon. Er singt „Du bist gerettet meine Seele“ und zuerst stimmt das vielleicht auch, die Musik ist ruhig und klingt fast erlöst. Aber die Bewegung steigert sich unmerklich. Die kirchlichen Choraltöne kommen hinzu und versuchen wie in einem Rettungsversuch die heile Welt zu etablieren. Sie werden aber immer wieder hinweggewischt und ausgelöscht, das Esmeralda-Thema dringt ein wie eine Flutwelle. Die Besessenheit ist noch da und wandelt sich auch musikalisch in Verzweiflung. Die Auseinandersetzung mit Quasimodo schließt sich an, die dann in der Ermordung des Archidiakons mündet. Im Hintergrund kommt der Chor hinzu und singt in Volksfeststimmung vom Tod Esmeraldas. Nach einer hochemotionalen Steigerung (ich musste an den Schlussmonolog aus „Lear“ von Reimann denken) endet die Oper mit einem abrupten Schlussakkord, der wie ein Fallbeil klingt.

Einige Ausschnitte aus der Aufnahme kann man auf Youtube mit der Suche „Franz Schmidt Notre Dame Naxos“ finden.

Achim Riehn

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