Vorstellung „Mefistofele“ am 28.09.2022 – ein Tanz auf dem Vulkan, spektakulär und mitreißend

Mit „Mefistofele“ kehrt Regisseurin Elisabeth Stöppler nach „Trionfo. Vier letzte Nächte“ nach Hannover zurück. Große Themen, abwechslungsreiche Musik und eine spektakuläre Bühne kommen zusammen zu einem im wahrsten Sinne des Wortes großem Ereignis. 200 Menschen im Orchester und im Chor sorgen für überwältigende Momente. Diese Inszenierung ist mit Sicherheit ein Höhepunkt der Saison!

Szenenfoto aus Mefistofele (Foto und Copyright: Sandra Then

Arrigo Boito ist vor allem als genialer Librettist von Guiseppe Verdi bekannt. Aber er war auch ein begabter Komponist. „Mefistofele“ ist seine einzige vollendete Oper. Boito benutzte Goethes „Faust“ als Vorlage, verschob allerdings die Akzente. Schon der Titel der Oper verweist auf diese neue Perspektive, Faust steht nicht mehr im Mittelpunkt. Eine sechsstündige Fassung hatte 1868 Premiere, erfolgreicher war die auf drei Stunden konzentrierte Fassung von 1875. Diese Version ist auch in Hannover zu sehen.

In der Oper machen Gott und der Teufel Faust zum Gegenstand einer Wette. Wessen Weltmodell ist attraktiver? Wer bestimmt über die Welt? Wohin wendet sich die Welt? Hat der Mensch eine Wahl? Lässt sich ein eigener Weg finden oder sind wir den beiden Mächten der Ordnung und des Chaos ausgeliefert? Es geht also um die großen Fragen rund um Gut und Böse. Boito präsentiert dabei Faust als Stellvertreter für die Menschheit, an dem diese Fragestellungen exemplarisch vorgeführt werden.

Das Libretto folgt dem Handlungstrang von Goethes Dichtung. Im „Prolog“ steht Mefistofele Gott und dessen Engeln gegenüber. Das Gespräch dreht sich um die Frage, ob der Mensch gut oder schlecht ist. Gott und Mefistofele wetten, welcher Seite sich Faust bei freier Entscheidung zuwenden wird.

Im 1. Akt nähert sich Mefistofele am Ostersonntag Faust und macht ihm Versprechungen. Er schlägt ihm einen Pakt vor. Alle seine Wünsche würden erfüllt. Aber sollte er jemals einen Moment vollkommenen Glücks erleben, dann gehört er der Hölle. Als Erstes bringt Mefistofele Margherita und Faust zueinander. Im 2. Akt genießen Faust und Margherita im Garten ihre Liebe. Auch Mefistofele und Marta vergnügen sich. Mefistofele verwandelt die Szenerie in eine dämonische Walpurgisnacht. Faust hat eine Vision von Margherita im Kerker, die ihn aus seinen Träumen reisst. Im 3. Akt sitzt Margherita im Kerker und wartet auf den Tod. Sie hat für ihre Liebe ihr Kind ertränkt und ihre Mutter vergiftet. Schulderfüllt will Faust sie zur Flucht bewegen. Aber Margherita weist ihn ab und nimmt ihr Schicksal an. Sie bittet Gott um Erlösung, die himmlischen Heerscharen nehmen dies an. Mit der „klassischen Walpurgisnacht“ sind wir im 4. Akt. An den Ufern Griechenlands erträumt sich Faust eine neue Geliebte, Elena, die schönste Frau der Antike. Mit ihr will er die ewige Liebe finden. Mefistofele verliert den Überblick und die Kontrolle.

Im Epilog blickt Faust auf sein Leben zurück. Er hat Elena verloren, nun wünscht er sich als Letztes Frieden und Glück für die Menschen. Er fleht Gott um Erlösung an. Mefistofele muss erkennen, dass das Hoffen nach einer besseren Welt bei den Menschen niemals enden wird. Die himmlischen Heerscharen besingen die Größe Gottes.

Ein Italiener nimmt sich einen deutschen Mythos und formt den in eine italienische Oper um. Eine neue Welt entsteht, ein neuer Blickwinkel tut sich auf. Boito hat Szenen aus beiden Teilen des Fausts in sein Libretto integriert und dies durch eigene Textzutaten ergänzt. Mefistofele und seine verführerischen Angebote stehen im Mittelpunkt. Ist das eine Perspektive für die Menschen? Ist das Böse plötzlich gesellschaftsfähig? Boito konzentriert sich nicht auf die Kriminalgeschichte Faust-Gretchen, er interessiert sich mehr für diesen philosophischen Überbau. Es entsteht so eine Kombination aus Philosophie und Unterhaltung, ein „Tanz auf dem Vulkan“ mit unheimlichen Tempo, mit ständig wechselnden Bildern.

Die Musik dazu ist spektakulär, schillernd und äußerst effektvoll. Grell wechseln sich verschiedene Musikstile ab. Jeder Akt ist musikalisch anders gestaltet. Man hört Wagner, ganz viel Offenbach, Meyerbeer, große italienische Kirchengesänge, überirdische Engelschöre, Höllenmusik, Belcanto-Arien voller Schmelz, italienische Volksmusik, Commedia del Arte, Populäres. Es sind scharfe Kontraste, die sich auch im Geschehen auf der Bühne wiederfinden.

Diese Kontraste nimmt Elisabeth Stöppler in ihrer Inszenierung auf. Der Kern der Geschichte muss für uns Menschen heute sichtbar werden: Jeder von uns kann verführt werden in einer Welt, in der Gut und Böse nicht mehr klar unterscheidbar sind. Gut und Böse, Verführbarkeit, ständig wechselnde Eindrücke und Einflüsse, dazu das „Weiter, weiter!“ Fausts, das sehen wir überall um uns herum.

Sowohl Gott als auch Mefistofele haben offenbar etwas den Glauben an ihre Macht über den Menschen verloren. Mefistofele ist ein Rentner, der zu Beginn mit seinem Hund spazieren geht. Interesse an Bosheiten hat er nicht mehr. Gott fühlt sich offenkundig unwohl inmitten der ihn kritiklos anbetenden und anhimmelnden Engelsscharen. Offenbar kann nur noch diese Wette um die Menschheit die beiden Mächte noch einmal motivieren. Gott als die Allmacht ist dabei als Person auf der Bühne, bei Boito ist er original ein gestaltloser Chor aus dem Off. Hier wird Gott in der Verkörperung durch den/die Schaupieler*in Heinrich Horwitz als Person dargestellt, die sowohl weibliche als auch männliche Züge hat. Gott wird damit als Wesen greifbar, das für alle Aspekte der Welt steht. Elisabeth Stöppler kommt in ihrer Inszenierung zu dem Schluss, das beide Mächte keine ernsthafte Orientierung mehr bieten können. Die Menschheit wird ihren eigenen Weg gehen müssen. Auch Gott und Teufel werden das erkennen, zum Schluss gehen sie im Volk auf der Bühne auf, Menschengestalten wie wir alle.

Exemplarisch dargestellt wird dieses Ringen um den richtigen Weg an Faust und Margherita. Faust könnte eigentlich jeder von uns sein. Hervorgehoben ist er nur dadurch, dass er engagiert ist und auf der Suche nach Sinn. Die Oper zeigt seine durch Mefistofele bewirkte Reise ins Unbekannte, in Abenteuer, Sinnlichkeit und Überfluss. Seine Gier gewinnt die Überhand, er will alles, so reisst er die Menschen um sich in den Abgrund. Zum Schluss will er nur noch erlöst werden. Weder Gott noch Teufel haben ihm einen Weg durch das Leben gezeigt. Margherita wird zuerst präsentiert als Objekt, als Klischee der verfügbaren Frau. In der Kerkerszene allerdings schafft sie es, sich von Faust zu befreien. Sie gelangt zur Erkenntnis und findet ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zwischen Gut und Böse.

Dieses Konzept klingt etwas theoretisch, es drängt sich in der Umsetzung aber nicht in den Vordergrund. Es nimmt als „Welttheater“ auf der Bühne eine bezwingende, hochgradig sinnliche Gestalt an. Das großartige Bühnenbild und die gleichermaßen großartigen Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes tragen dazu entscheidend bei.

Mefistofele präsentiert Faust seine Welt, es ist eine Reise durch ganz verschiedene Stationen und Situationen. Die Bilder und Kostüme dazu sind verblüffend und prächtig, sie spielen mit Lust und Freude mit den Klischees, die wir über Gott, Teufel und die Welt im Kopf haben. Die ganze Bandbreite zwischen erhabensten Engelskostümen und dämonischen Teufelsfratzen wird abgedeckt. Das ist sehenswert bis ins Detail. Dinge wie glitzernde Vorhänge aus Lametta kommen dazu und erhöhen noch die Wirkung der Kostüme.

Ein zentrales Symbol findet sich in mehreren Szenen auf der Bühne: ein gigantisches Menschenkind in Puppengestalt. In Goethes Faust gibt es den Homunculus, das künstlich erschaffene Wesen, das auf der Suche nach seiner Bestimmung, seiner Seele ist. Diese Puppe ist für mich in der Inszenierung das Symbol für die Menschheit und ihrer Suche nach Bestimmung. Auf ihr wird geliebt, auf ihr wird herumgetrampelt, sie wird in einer schwarzen Messe belebt und geopfert, sie ist als das getötete Kind das Sinnbild für die Schuld Margheritas, aus ihrem Kopf entsteigt die herbeigeträumte Elena.

Die Bilder sind teilweise atemberaubend: die Chortableaus der himmlischen Chöre vor dem goldenen Vorhang, der am leuchtenden Kreuz in den Bühnenhimmel entschwindende Gott, die als umgekehrtes Kreuz emporgezogene Riesenpuppe mit dämonisch leuchtenden Augen …. Ich kann kaum ein Ende finden, man muss es selbst sehen. Ganz intime Szenen mit fast leerer Szenerie wie bei der Begegnung von Faust und Mefistofele bilden Ruhepunkte. Die Bühne wird zu einem abwechslungsreichen, überbordenden und faszinierendem Welttheater mit erheblichem Schau- und Unterhaltungswert. Philosophie und Show fügen sich zusammen.

Vor dem 4. Akt kommt noch eine Ansprache von Gott nach einem Text von Kae Tempest hinzu. Sie ist an das Publikum gerichtet und kann als kurze, nachdenkliche Reflexion des bunten Bühnengeschehens interpretiert werden. Gott ist die Klammer zwischen dem Spiel und uns. Aber auch sie/er kennt die Zukunft nicht.

Dieses faszinierende Bühnengeschehen gipfelt ekstatisch und triumphal im Schlussbild der Oper. 200 Menschen in den Chören und im Orchester lobpreisen den Herrn in einer Klangwoge, die Zuhörerinnen und Zuhörer fast in den Himmel mitreisst. Nur Gott und Mefistofele stehen da, als ob sie nicht mehr recht wissen, wie es weitergehen kann.

Der Applaus nach dieser spannenden Inszenierung fiel begeistert aus. Das lag auch an den musikalischen Leistungen.

Das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leistung von GMD Stephan Zilias leuchtete alle Facetten dieser vielfältigen, überbordenden Musik faszinierend emotional und doch präzise aus. Bei einer nachlässigen Interpretation könnte die Musik leicht als ein Sammelsurium verschiedenster Stile erscheinen, hier wirkte sie eigenständig, das Geschehen auf der Bühne kommentierend und ausleuchtend. Insbesondere im Zusammenklang mit dem Chor und dem Extrachor der Staatsoper Hannover (Einstudierung Lorenzo Da Rio) und dem Kinderchor der Staatsoper Hannover (Einstudierung Tatiana Bergh) gelang dies besonders bezwingend. Nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkung war mir fast nicht mehr bewusst, wie großartig die Chöre unserer Oper sind. Das war ein Ereignis – nicht nur gesanglich, sondern auch szenisch!

Der Bass Shavleg Armasi bewies als Mefistofele wieder einmal, wie sehr ihm diese dunklen Rollen liegen. Perfekt geführt auch in den tiefen Registern war es eine Freude, seiner beweglichen, wohlklingenden Stimme zuzuhören. Das Vergnügen an seiner Rolle war jederzeit zu spüren, so gelang eine großartige Verkörperung des Mefistofele.

Als Gast sang der Tenor Pavel Valuzhin den Faust. Seine Stimme hat Schmelz und kann leuchten. Mit den extremen Höhen der Partie hatte er etwas zu kämpfen. Aber auch hier gelang eine bezwingende Rollenausdeutung. Zur Hochform lief er im Duett der Kerkerszene auf.

Barno Ismatullaeva sang die beiden Sopranrollen der Margherita und der Elena mit leuchtender Stimme. Glanz und Intimität, beides beherrscht sie perfekt. Ihre Stimme hat so viel Glut und Power, dass sie wohl jederzeit die Mauern ihres Kerkers niedersingen könnte. Es ist jedesmal ein Genuss, Barno Ismatullaeva zuzuhören und zuzusehen.

Pawel Brozek (Wagner, Neréo), Monika Walerowicz (Marta, Pantalis) und Beatriz Miranda (Eine Sirene) gelang es, ihre kleineren Rollen als eigenständige, lebende Charaktere auf die Bühne zu bringen. Das war in jedem Moment gut gesungen und gespielt. Heinrich Horwirtz zeigte Gott als sensiblen, etwas unsicheren, an sich zweifelnden Charakter – eine ideale Besetzung. Nicht vergessen werden sollen die Statisterie und der Hund von Mefistofeles. Ohne sie wäre es alles nur halb so schön gewesen.

Das recht junge Publikum im gut besetzten Haus feierte alle Beteiligten mit lang anhaltendem, begeisterten Beifall, zu Recht und völlig verdient. Das ist eine Oper, die man gesehen und gehört haben muss, ein Glanzstück, keine Minute langweilig, jederzeit mitreißend. Mehr davon, das Publikum wird es der Oper danken!

Achim Riehn

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